Glück und Pech

Bild zeigt Jürgen Wagner
von Jürgen Wagner

Geplagt an allen Tagen
sitzt sie am Brunnenrand
Sie spinnt ganz unermüdlich
die Spule in der Hand

bis ihre Finger bluten
Sie wäscht die Spule aus
Da fällt sie in die Tiefe
Sie rennt vor Schreck nach Haus

‚Hol‘ sie gefälligst wieder‘,
so schilt die Mutter sie
Sie geht zurück zum Brunnen
ist ratlos wie noch nie

Mit allen ihren Ängsten,
fasst sie sich doch ein Herz
und springt in seine Tiefe
empfindet keinen Schmerz

Verliert dort die Besinnung
und wacht dann wieder auf
Sieht sich auf einer Wiese
Da blüht es ja zuhauf!

Sie trifft auf Brot und Äpfel
die sprechen leis zu ihr
Tut alles, was vonnöten
direkt und ohn‘ Begier

Geht weiter ihres Weges
zum Haus der alten Frau
Erschreckend sind die Zähne,
doch spürt sie ganz genau,

sie kann ihr wohl vertrauen
Sie dient ihr Tag um Tag
macht alles, was geheißen
und tut es ohne Frag‘

So regnet, schneit‘s auf Erden
Natur geht ihren Gang
Sie dient der Großen Mutter
Es tönt der Weltgesang

Sie darf zurück nach Hause
ins Reich der Menschen geh’n
Am Tor wird sie gesegnet
um Neues zu besteh’n

****************

Verwöhnt nach Strich und Faden
nichts Eigenes erreicht
Sie sieht die güld'ne Schwester
und wird ganz furchtbar bleich

Nun geh schon, sagt die Mutter
Das kann so schwer nicht sein
Folg‘ nur der Schwester Spuren
Dann ist es bald auch Dein ...

Sie trifft auf Brot und Äpfel
und ihre täglich‘ Pflicht
Das ist ihr viel zu lästig
‚Das ist es sicher nicht!‘

So geht sie eilends weiter
und trifft die alte Frau
Die kann sie nicht erschrecken
sie weiß schon ganz genau

was täglich ist zu leisten
Sie lässt sich darauf ein,
doch wird sie sehr schnell müde
und lässt die Pflicht Pflicht sein

Die Betten frisch zu machen,
das ist so wichtig nicht
Sie lässt es heut mal schleifen -
und da: das Bündnis bricht!

Sie geh‘n zurück die Wege
Marie hofft noch darauf
dass sie doch auch empfange ...
Sie sieht: das Tor ist auf

Verweilend auf der Schwelle
Das Glück zum Greifen nah
Nun mag es doch geschehen
Tatsächlich: es geschah

Es regnete hernieder
der Himmelssegen hold
Doch fand er nichts ihm Gleiches
und wurde Pech statt Gold

Veröffentlicht / Quelle: 
'Frau Holle - eine Würdigung', Berlin 2016
Gedichtform: 
Thema / Schlagwort: 

Video:

Bild: Alter Brunnen - Musik: JW
Noch mehr Gedichte der Persönlichkeit → Jürgen Wagner