Seiten
Im mittleren Fach leben die Bosse und die Hilfigers, etwas weiter entfernt, die Marlowes und die Tchibo-Posse. Schon ganz an den Rand gedrängt, die vier, von uns allen liebevoll „Kaffeeböhnchen“ genannt. Braun und unansehnlich. Die Walbusch-Bande hat einen eigenen Platz in diesem Schrank. Und ganz unten auf der sozialen Leiter, die Billig-Socken von Penny. Wenn das mal nicht diskriminierend und pures Kastendenken ist. Ganz unten die Schwarzen, ja?! Politisch korrekt ist das nicht. Aber innerhalb dieses Systems funktionierte das ganz gut. Der Pöbel hielt sich fern vom Adel. Der Adel sieht auf den tumben Pöbel herab, auf dieses, tja, "Gesocks". Übrigens, falls Sie jetzt vielleicht denken: „Das war aber jetzt gerade sehr heftig!“ - dann liegen Sie völlig falsch. Bei uns, in unserem Sprachgebrauch, ist „Gesocks“ nicht einmal sehr böse gemeint. Es liegt noch oberhalb vom „Gesindel“, deutlich sogar. Man kann die Sockensprache auf keinen Fall mit der Menschensprache vergleichen. Bei uns ist damit gemeint: Billig-Socke, viel Polyamid.
Meist öffnen diese jungen Damen, die uns hoffnungsvoll besuchen, den Socken-Schrank - und weichen zurück. Denn ein solch strenger Hecht zieht heraus, dass nicht nur der Schrank ziemlich schnell wieder geschlossen, sondern auch sehr bald beschlossen wird, die Besichtigung dringender Termine und völlig verdrängter Dringlichkeit wegen sofort und auf der Stelle abzubrechen. Leider, mein Besitzer sucht bereits seit 2 Jahren nach einer Gefährtin. Und, unter SOLCHEN Umständen, wird es sehr schwer, eine zu finden.
Was versucht der arme Mensch nicht alles. Mit teuerstem Parfüm und allerlei edlem Räucherwerk versucht er, den Permanent-Mief zu überdecken. Aber die feine Nase einer jungen Dame wittert dennoch das Unheil - und es dringt, qualmt direkt aus dem Schuh-Schrank. Nein, da hilft auch kein nahezu wütendes Waschen auf der Stufe Intensiv Wäsche, mit Vorwaschgang, doppelt Weichspüler und fast ordinär vielen 3in1-Pods in der Waschmaschine. Er hat es auch schon mit Handwäsche versucht. Nichts hilft. Scherzhaft und etwas ungebührlich wird im Schrank gesagt: „Waschen könnte helfen!“ Aber ich weiß, dass Morris sich sehr wohl die Füße wäscht. Täglich mehrere Male. Ich hab ihn auch schon dabei beobachtet, wie er sehr teures Herren-Parfüm über die nackten Füße gegossen hat. Das half exakt 24 Minuten lang.
Einmal hat er mich, mich ganz allein, in die Waschmaschine gestopft (natürlich auch mit meinem Bruder, ja doch). Er gab 6 (!) Pods hinein, stellte auf „Intensiv“ ein, stets mit Vorwaschgang, und schüttete eine halbe Flasche Weichspüler mit hinein. Hinzu gab er 12 Säckchen Lavendel (bester frischer, französischer Lavendel, 10 g je Sack, also 120 g Lavendelblüten Goût de Paris in nur einem Waschgang), ich dachte schon daran, ich müsse nun in frischem Lavendel erduften (verduften?), und es hat NICHT das Geringste geholfen. Wissen Sie jetzt, von welchem Ausmaß „Schweißfuß“ ich da spreche? Ja, ich denke, JETZT wissen Sie es. 17 Duftbäumchen hängen im Schrank und keines davon hilft auch nur im Ansatz. Siebzehn...
Was unseren Besitzer geritten haben mag, als er im Penny Markt diese 20 Socken, peinlichster Machart übrigens, in schwarz, gekauft hat, wird uns für immer ein recht großes Rätsel bleiben. Es hat weder Stil noch Klasse, solch einen Kauf zu tätigen. Meiner Meinung nach muss er an diesem Tag des Kaufes den vernebelten Verstand eines 8jährigen gehabt haben. Und als er diese minderwertigen Socken dann auch noch zu uns, den Edelsocken, packte, war´s vorbei mit Kompetenz-Gerangel, mit all den kleineren Streitigkeiten, mit Zwist und Häme. Es begann der Sockenkrieg. Diese 20 Eindringlinge haben bei uns allen die niedersten Instinkte geweckt. Ja, waren wir zuvor ein wenig eifersüchtig, ein wenig dem Standesdünkel verfallen, ein bisschen arrogant und hochmütig, dann eskalierte die Situation nun zur offenen Konfrontation, der Schrank bebte. Es stank gewaltig, und das im doppeldeutigen Sinne. Ja, meine anderen Kollegen hatten sich an meinen Gestank einigermaßen gewöhnt. Dead Bee, Seine erlauchte Müffeligkeit, so wurde ich heimlich betitelt. Nun aber kamen NEUE Stinkesocken hinzu. Und die wurden, offenbar beim Sport, oft getragen. Bedeutete: Stinkalarm! Nahzu täglich. Entweder durch mich, oder durch diese, von vielen hier „Abschaum“ genannten Fußbekleidungs-Peinlichkeiten in Schwarz, pures Polyester. Pervers.
Ich hörte: „Asozial, diese schwarzen Teufel, die passen nicht in unseren Schrank, es ist unerträglich: Diese Socken ziehen uns runter. Wir wollen sie hier nicht. Geht, und kommt bloß nicht wieder. Verlasst unseren Schrank! Zerfetzt sie! Durchlöchert sie!“ (Sehen Sie: Das ist in unserer Sprache die schlimmste Beleidigung überhaupt!)
Die Majestät wird sich an solch diffamierenden, rassistischen und blasiert-bornierten, peinlichen soxanthropen Äußerungen selbstredend nicht beteiligen, das liegt deutlich unter meinem Niveau, stapelweise darunter, aber auch ich war der Meinung, dass die 20 Paar Underdog-Socken hier im upper-class-Bereich wenig bis nichts verloren oder zu suchen hatten. Bin ja auch nur eine Socke... Kann auch nicht aus meinen Nähten raus.
Die Schere zwischen Arm und Reich hier im Schrank ging bald gewaltig auseinander. Wuchtige Hiebe, böse Anfeindung, tägliche Grabenkämpfe. Wilde Ellenbogenspiele, Machtdemonstrationen, ausufernd und Besorgnis erregend: Die Beleidigungen, die Anwürfe, die Ausgrenzungsversuche - und das Intrigieren allerseits.
Die Tommys und die Hugos wollten eine rasche Abschiebung erwirken. Es sei ja nur eine Frage der Zeit, bis diese 20 Schwarzen kriminell werden würden, und einen von uns, womöglich sogar den Socken-König, meuchelten. Die Atmosphäre im Schrank: Gepresst, Hass erfüllt (zudem mit grauenhaftem Gestank!), kurz vor der Explosion! Easton Marlowe suchte zu beschwichtigen, Tchibo hielt sich aus allem raus. Aber Walbusch, OMG, Walbusch, diese durchtriebene Bande, sie hetzte und stänkerte ohne Ende, in einer Tour. Und brachte schließlich das Fass zum Überlaufen, jenen Schrank der Socken zum Einsturz. Die Katastrophe, sie war unaufhaltbar.
Als unser Besitzer eines Tages, mit mir am Fuß, zurück in seine Heimstatt gelangte, fand er dort nur noch ein qualmendes, stinkendes Häufchen Edelholz vor. Dies war sein ehemaliger Schuh-Schrank, einst so wunderschön anzusehen, im dunklen Rot gehalten, ein Yajutang, antik, vielleicht 120 Jahre alt, mit den edlen, ansprechenden Messingbeschlägen, aus massivem Fichtenholz... Nun lag er in Trümmern, und alle Socken verstreut, teils zerfetzt, vor allem die Penny-Socken mit extrem großen, völlig ausgefransten Löchern, dampfend.... Total zerstört, leblos. Ein Inferno.
Wie konnte das nur sein? Wie war das passiert? Wie konnte es geschehen? So rohe Kräfte hatten die Zerstörung bewirkt. Das „Finale Furioso“. Ob Hugo oder Tommy, ob Easton oder Tchibo, sie waren alle tot. Ich war geschockt. Was hat ein König für eine Existenzberechtigung, wenn er kein Volk mehr hat, das er regieren kann? Richtig, gar keine. Ich musste an die armen Eltern in Italien denken: Solch ein Leben hatten sie nicht für mich geplant, erhofft. Nicht solch eines! Erschüttert: Der Besitzer und seine Dior-Socken-Majestät, eine von Hand gekettelte Sockenspitze aufweisend. Wir waren fassungslos. Sogar die Socken-Polizei wurde gerufen. Die Gemengelage aber blieb undurchsichtig, nebulös, völlig unübersichtlich. Der „Fall Socken-Schrank“ wurde zu den Akten gelegt. Bedauernd hob der Socken-Kommissar die Schultern und zudem die rechte Augenbraue: „Herr Zaltzberg, Sir, wir konnten nicht eruieren, wie es zum Unglück gekommen ist. Fremdverschulden können wir ausschließen. Es scheint sich hier um eine Art Massen-Suizid zu handeln. Übrigens, puuuh, das müffelt ja wirklich bedenklich streng hier....“ Und der Kommissar, eine mit natürlicher Autorität äußerst stark ausgestattete ABS Antirutsch Premium Noppensocke (92 % Baumwolle!), blau, in der Größe 47/50, klappte das Notizbuch zu. „Wir können hier leider weiter nichts mehr machen. Ich bedauere Ihren Verlust, Herr Zaltzberg... Wünsche noch einen.... äh, verzeihen Sie... Auf Wiedersehen...“ Und der Kommissar Noppensocke (ich bin immer kurz davor, Nockensoppe zu sagen, weiß auch nicht, warum) stieg in sein Elektro-Sockomobil, winkte noch kurz... Halt, warten Sie, das geht jetzt aber wirklich zu weit und ich entschuldige mich für diese Entgleisung. Fantasie - schön und gut. Aber das? Nein. Das vergessen wir ganz schnell wieder. Sorry für diese Entgleisung.
Wir zwei standen, allein, vor den Trümmern des ehemaligen Socken-Schrankes. Morris hatte die Schuhe ausgezogen. So wurde ich, leider, Augenzeuge der Tragödie. All diese Toten. Dieser schreckliche Anblick würde mich wohl für die weiteren Lebensjahre begleiten. Für immer, wohl unauslöschlich, hat sich diese schreckliche Tragödie in mein Socken-Hirn eingebrannt. Nicht länger war ich der König. Ich war nur noch eine Solo-Socke von Dior. „Dead Bee“, dachte ich traurig. Was gäbe ich jetzt dafür, wenn sie es heimlich hinter meinem Rücken tuschelten. Aber da war nichts mehr. Hundertzwanzig tote Kollegen, Freunde, Weggefährten. Das steckt keiner einfach mal so weg. Auch, wenn in meinen Genen 21 % Polyamid toben, nein, auch solch eine Socken-Majestät kann einen Horror wie diesen einfach nicht ertragen.
Morris erholte sich nie mehr von dieser Tragödie. An mir hielt er fest. Aber einen so wunderbaren Schuh-Schrank gab es nie wieder in seinem Leben. Ich hielt noch fast 12 Jahre lang durch. Es wurde in keinem Jahr besser mit seinen Schweißfüßen. Der Besitzer konnte unternehmen, was immer er wollte. Seine Füße stanken. Und damit war auch klar: Er würde niemals eine Gefährtin finden.
In seiner Verzweiflung futterte Boss Morris nur noch Fast Food und Donuts, und trank literweise Cola, fraß Eis und schaufelte alles in sich hinein, was auch nur entfernt an Süßigkeiten erinnerte. So wollte er, der arme Wicht, Diabetes mellitus Typ II bekommen. Er hatte gelesen, dass bei manchen Erkrankten die Füße ganz taub werden, nicht mehr durchblutet sind. Und dann, so seine, tja, logische Schlussfolgerung, können sie ja auch nicht mehr stinken. Bis es dann endlich so weit sein wird (angedachtes Gewicht: 136 kg!), wird noch etwas Zeit vergehen. Er wiegt jetzt erst 89 kg. Auch sind noch nicht einmal die Zehen taub. Meine Aufgabe ist es, weiterhin treu bei Morris zu bleiben, zu und an seinen Füßen. Wen hatte der arme Mensch denn noch?
Er hatte eigentlich nur noch mich, Chris. Und der bedankt sich jetzt herzlich für Ihre freundliche Aufmerksamkeit. Haben Sie nicht soeben 12 Minuten Ihrer Lebenszeit für mich geopfert? Und dafür DANKE ich herzlich. Ja, es sind exakt diese zwölf Minuten Ruhm, die mir ein wenig aus bitterer Depression und permanenter Schwermut helfen. Und sei es nur für wenige Stunden. Ich habe es nämlich nicht sonderlich gut getroffen im Leben. Ich bin eine arme Socke!
EPILOG:
Doch, es gibt ihn, den mysteriösen Socken-Schwund in der Waschmaschine. Da gibt man ein Paar hinein und findet dann nur noch eine Socke! Wie kann das nur sein? Wohin ist die andere Socke denn nur verschwunden? Falls Ihnen das schon einmal passiert ist, und Sie von Hand die Trommel innen drehten und drehten - und wirklich nirgendwo auch nur ein Faden der zweiten Socke zu sehen war, dann ist es passiert: Ein Brudermord! Eine Socke hat die andere zerfetzt, zerlöchert, zerstört. Vollständig.
Glauben Sie es nur. Wie bei Euch Menschen kommt auch bei uns Socken so etwas vor. Es sind die kranken, nach außen völlig normal wirkenden Fußbekleidungen, die tagsüber ihren lapidaren Gepflogenheiten nachgehen, ihrer normalen Arbeit (Sockendienst an irgendwelchen Füßen), und dann nachts, meist in einer Schublade - oder in einem schönen Sockenschrank, meist aber, völlig unbeobachtet von den Menschen, in der Waschmaschine, oft während des Schleudergangs (das sieht dann wirklich keiner), ihre Taten grausam verüben, ihren Meuchel-Modus starten. Dann metzeln sie, wie die kranken Socken-Tiere... Tragisch.
Dann zerstören sie Gewebe, trennen Nähte auf, zerfetzen auch die teuerste Socke. Die Menschen sind meist völlig ratlos. Wir aber wissen, welche Tragik sich in der Waschmaschine abgespielt hat, wenn der suchende Mensch sich fragt: „Wo, zum Teufel, ist die verflixte zweite Socke hin? Die kann doch nicht einfach so weg sein?“ Doch, kann sie... Das Infame: Die gewissenlose Leichenentsorgung ist einfacher als bei Menschen. Eine besiegte Socke wird einfach aufgefressen. Doch ja, das geht... Warum glauben Sie mir das denn nicht? Ich wette, Sie persönlich haben das auch bereits erlebt. Sehen Sie!