Die ersten Zweifel kamen mir am Donnerstag vor zwei Wochen. Es war zunächst ein ganz normaler Abend: Judith war seit Stunden damit beschäftigt, unsere Wohnung keim- und staubfrei zu halten. Im Wohnzimmer war sie mit ihren dürren Armen bis in die letzten Winkel unserer Schrankwand gedrungen und hatte weder die filigranen Buntglasgebläse noch unseren koprophagenischen Kunststoff-Bonsai ausgelassen. Je nach Form und Material des zu reinigenden Objektes benutzte sie einen besonderen Staubwedel und strich flink und behutsam über jede Kante oder Blättchen. Danach war der Teppich an der Reihe. Sorgfältig besprühte Judith jeden Quadratdezimeter mit blau schäumendem Milbrotektor, um die so vorbereitete Fläche exakt sechs Sekunden später abzusaugen. Nun stieß sie mir ab und zu sanft fordernd an meine Pantoffeln, nicht ohne diese ebenso mit einer speziellen Bürste zu bearbeiten.
“Können wir das Ding nicht mal eine Minute abstellen?” wollte ich von Moni wissen. Meine Frau hörte mich nicht. Sie saß mit geschlossenen Augen und zufrieden lächelnd auf der Couch. Unter ihren langen Haaren war der Mikro-Lektor im rechten Ohr zwar nicht wahrzunehmen; der Deckel der kleinen Kassette vor ihr ließ aber wenig Zweifel. Moni war bei ihrer 'Weiterformungsmaßnahme', wie sie es selbst scherzhaft nannte: Mysterium der Zufriedenheit – auf der Suche nach sich selbst, Kurseinheit 935.
Ich gab auf und widmete mich wie jeden Abend dem holografischen Stellenanzeiger unserer Region. Nicht, dass ich wirklich eine berufliche Wende herbeisehnte. Dies wäre sowieso zwecklos: ich gehörte zur Gruppe 'Entsorgung', womit mir der Traum meiner Kindheit (oder richtiger: der meiner Eltern) für immer verbaut war. Denn um in die Gruppe der 'Entwicklung' zu gelangen, bedurfte es eines IQs von mindestens 140. Mit einem schlappen Ergebnis von 125 damals im Alter von 15 Jahren war mir nur die Wahl zwischen 'Entsorgung' und 'Wartung' geblieben. Nichtsdestotrotz war mir diese leicht gefallen. Im Gegensatz zur 'Wartung', wo man stets nur nach Handbuch Strom- und Spannungswerte prüfen und defekte Teilsysteme austauschen durfte, konnte man in der 'Entsorgung' die Roboter trotz einiger Einschränkungen noch mit einer Spur freier Entscheidung auseinandernehmen, sich ihrer bio-mechanischen Struktur widmen, hin und wieder einen Schaltkreis in der Tasche verschwinden lassen und nach Hause nehmen. So brachte ich beim Experimentieren irgendwann einmal meinen Goldfisch (kein echter natürlich) dazu, in wunderschönen, akrobatischen Pirouetten zu schwimmen. Mir wurde bloß nie klar warum, denn der Chip stammte aus der bionischen Zentraleinheit eines Robo-Freundes der lokalen Stadtverwaltung.
Die Stellenanzeigen waren in die fünf allgemein bekannten Hauptgruppen geordnet. Es gab neben 'Entwicklung', 'Wartung' und 'Entsorgung' noch zwei weitere Gruppen, die mich allerdings persönlich nicht sonderlich interessierten, von meiner fehlenden Qualifikation mal abgesehen. Das waren 'Information' und 'Überwachung'. Letztere entsprach ohnehin einem mehr oder weniger absterbenden Zweig, denn zur Überwachung vor allem kritischer, vernetzter Systeme wurde verstärkt an einer neuen Generation von Robotern gearbeitet, die auch diese Tätigkeit dem Menschen für immer ersparen würde. Schließlich waren letztere verlässlicher als Menschen, wenn es um die Diagnose und Auswertung technischer Betriebsdaten ging, wobei inoffizielle Quellen manchmal eher nebensächliche Faktoren wie Kostensenkung erwähnten. Wie dem auch sei, die Sicherheit der Bevölkerung stand stets an erster Stelle: wenn es überhaupt einmal zu einer schwerwiegenden Systemstörung kam, war die ermittelte Ursache letzten Endes immer wieder menschliches Versagen, und sei es der Sekundenschlaf eines Mitarbeiters des Überwachungspersonals.
Was 'Information' anging, waren die Mitarbeiter dieser Kategorie besonderen Auswahlkriterien unterworfen, die man hingegen aus fachlich-technischen Gründen nicht publizierte. Klar war nur, dass es in diesem Beruf schwere Entscheidungen zu treffen galt. Wenn nämlich verschiedene Nachrichten-Erfassungs-Zentren Information erstellten, die sich in irgendwelchen Details nicht vollständig deckten, dann musste der Mensch sein Urteil fällen, welche davon für die staatliche Berichterstattung als zuverlässig anerkannt und somit veröffentlicht werden durften. Eine hohe Verantwortung wenn man berücksichtigt, dass eine Unmenge von Entscheidungssystemen täglich mit Daten gespeist wurde, die aus öffentlichen Ämtern der 'Information' stammten. Man denke nur an die Kvanefjelder Börse und die Preisschwankungen von Lanthan, Praesodymium und anderen wichtigen Rohstoffen, welche, wenn auch indirekt und je nach Golfstromtemperatur, einen bedeutenden Einfluss auf den morgendlichen Berufsverkehr hatten. Kein städtisches Verkehrsregelungsystem wäre heutzutage in der Lage, ohne aktuelle Kurswerte die Ampelführung zu optimieren. Jedenfalls stand es so in irgendeinem Paragraphen der Brüsseler Verordnung von 2067 über die Harmonisierung der Wartezeiten an europäischen Lichtsignalanlagen.
Die Stellen in meiner Kategorie glichen sich wie üblich wie ein Ei dem anderen: Name der Firma, Kategorie Entsorgung, Lizenz L786-Db7r als Voraussetzung (entsprach meiner gesetzlich anerkannten Ausbildung als Roboter-Demontage-und-Entsorgungs-Spezialist), Kontaktdaten und der Vermerk 'staatlich geregelter Vergütungssatz'. Ich forschte vor allem nach internationalen Unternehmen, bei denen es noch eine geringe Chance auf jährliche Prämien gab. Leider blieb die Suche ein weiteres Mal ohne Erfolg. Gerade als ich mich dem Feuilleton zuwenden wollte, blinkte vor mir eine Annonce auf, die augenscheinlich erst wenige Sekunden alt war:
Suche Spezialisten der Kategorie Entsorgung für experimentellen Warentest. GV AFFE – Gemeinnütziger Verein für Andromonische Fehl-Funktion-Ermittlung. Hyper-Kontakt affe{unpub:fork}trond.eu. Entgelt vertraulich ausgehandelt.
Ich stutzte. Zum einen konnte ich mit 'gemeinnützig' nicht viel anfangen. Vereine kannte ich wohl einige. Zum Beispiel besuchten ich und Moni einmal im Jahr den Kunststoff-Bonsai-Wettbewerb unseres Stadtviertels. Der Batterieverbrauch der Organisatoren musste natürlich irgendwie bezahlt werden, wozu letztere einen Verein gegründet hatten, welcher im Einvernehmen mit der städtischen Energieversorgung das notwendige Geld über die Stromrechnung der Anwohner einsammelte, also automatisch abkassierte. Mein Nachbar, der selbst keinen Bonsai hatte, erklärte mir vor ein paar Monaten, dass das 'gemein' sei, worauf ich ihn wiederum auf die 'Nützlichkeit' des Wettbewerbs aufmerksam machte. Immerhin konnte man sich beim Treffen mit anderen Bonsai-Liebhabern über die Spitzfindigkeiten der koprophagenischen Nährstoffzufuhr austauschen.
Was mich aber wirklich verwunderte war die 'Fehl-Funktion-Ermittlung'. Andromonen, also der städtische Robo-Freund, Robo-Polizist, Robo-Arzt usw., funktionierten oder eben nicht, typischerweise im abgestellten Zustand. Oder es ging um die Kapazität dieser technischen Spezi, weitere menschliche Schwächen aufzudecken, um diese ebenfalls durch die Anwendung künstlicher Intelligenz zu umgehen?
“Moni, schau dir das mal an!” rief ich meiner Frau zu. Zufälligerweise war sie gerade dabei, sich und ihren Mikro-Lektor auf die nächste Kurseinheit vorzubereiten. Da sie das holografische Bild der Anzeige aus ihrer Perspektive nicht wahrnehmen konnte, erhob sie sich mit einem Seufzer der Ungeduld und setzte sich an meine Seite.
“Ha ha, das kann nur ein Mensch geschrieben haben! Der sollte sich mal selbst testen lassen.” Schon sprang sie auf und begab sich erneut auf ihre Couch. “Und jetzt störe mich bitte nicht weiter mit irgendwelchen Nebensachen.”
Ich begriff, dass es zwecklos war, sie weiter in ein Gespräch verwickeln zu wollen und sparte mir dieses Mal die lakonische Bemerkung, dass das gesamte Lehrmaterial von einem Computersystem erstellt worden dar. “Na und?” würde sie erwidern. “Kennst du einen Menschen, der in der Lage wäre, aus mehr als 1.500 Büchern der letzten 5.000 Jahre alle Weisheiten der Menschheit zu synthetisieren?” - Das bezweifelte ich zwar genauso, doch sah ich nicht ein, wieso aus den 1.500 Quellen fast 6.000 Lektionen entstehen mussten. Moni würde mindestens vier Jahre brauchen und sich am Ende in ihrer menschlichen Schusseligkeit höchstens an die letzten fünf Folgen erinnern können.
Nach einiger Überlegung entschied ich mich, auf die Anzeige zu antworten und klickte auf die Hyper-Adresse. Zu meiner Verwunderung erhielt ich als Antwort eine Fehlermeldung:
Ungültiger Eintrag. Bitte versuchen Sie es kein weiteres Mal. Ihr Hypernetzsicherheitsverifikationsagent.
Spontan leuchtete mir ein, dass das Inserat in der Tat von einem Menschen stammte. Zumindest war es unwahrscheinlich, dass sich eine geprüfte Software bei der Auswahl und Eingabe des Hyperkontaktes irren könnte. Richtig merkwürdig wurde es allerdings, als ich zurück zur Liste der Ergebnisse ging. Die Annonce war plötzlich verschwunden! Ich suchte erneut mit allen möglichen Stichwörtern, einschließlich 'gemeinnützig' (wie ich herausfand, war die Bedeutung 'veraltet für die Fähigkeit eines technischen Systems, alle Benutzer gleichermaßen zufrieden zu stellen'), jedoch umsonst: in der Hyperinformationswolke gab es keine Spur der Anzeige, die ich erst vor Momenten gelesen hatte.