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Als meine Jugendliebe Mark die Scheidung verlangte, weil er, wie er freudestrahlend bekannte, eine Arbeitskollegin liebe, die von ihm schwanger sei, erkrankte ich am Messie-Syndrom, einer Zwangsstörung, die mein Leben in ein Chaos stürzte, dem ich ohne professionelle Hilfe nicht mehr gewachsen war.
Mark war schon vor der Scheidung aus unserer gemeinsamen Wohnung ausgezogen und mit ihm der Sinn meines Lebens. Unser Glück war nach sechs Ehejahren unwiderruflich zerbrochen, und wenige Wochen später begann ich zu horten, was mir unter die Finger geriet: wertlosen Elektroschrott von der Straße, Kleidung, die ich kiloweise aus dem DRK-Shop nach Hause schleppte, Zeitschriften, nichts sagende Bücher, Bla und Keks. Der Krimskrams sollte mich über schlechte Zeiten retten. Zudem hatte Mark die Hälfte unserer Wohnungseinrichtung mitgenommen: Es gab viele Lücken zu schließen, nicht allein die schreckliche Leere, die er in meinem Leben zurückließ.
Äußerlich machte sich mein Messie-Syndrom lange Zeit nicht bemerkbar, obwohl ich morgens nicht mehr unter die Dusche springen konnte. Darin stapelten sich Geschirr, Blumentöpfe und Lebensmittel, die im Preis herabgesetzt waren. Um Haltbarkeitsdaten kümmerte ich mich längst nicht mehr.
Ich erstand diese Waren wie unter einem inneren Zwang, denn ich glaubte, einen unverzeihlichen Fehler zu begehen, ließe ich „spottbillige“ Angebote außer Acht. Was die unsicheren Zeiten auf unserem Planeten auch bringen mochten: Verhungern würde ich ganz gewiss nicht.
Mark und ich wollten für die Kinder, die wir uns damals wünschten, ein Eigenheim mit Garten erwerben, weshalb ich während unserer Ehe in einer Steuerkanzlei mitgearbeitet habe. Das zahlte sich nach der Scheidung aus; ich brauchte mich nicht als blutige Anfängerin bei irgendwelchen Firmen zu bewerben. Auf meinem Arbeitsplatz hatte niemand eine Ahnung von meinem Sammelzwang, und später führte ich schiefe Blicke, die meine Kolleginnen mir immer häufiger zuwarfen, auf mein oftmals schräges Outfit zurück. Es gestaltete sich von Tag zu Tag schwieriger, in dem wüsten Chaos meiner Wohnung ein sauberes, unbeschädigtes Kleidungsstück aufzustöbern.
„Spendierst du mir noch einen Kaffee, Resi?“, fragte Sven, ein alter Schulfreund, als wir vor meiner Haustür parkten. Wir hatten uns zufällig im Einkaufszentrum getroffen, und weil es draußen regnete, wollte er mich unbedingt nach Hause fahren.
„Sorry, Sven“, wehrte ich erschrocken ab, „aber ich bin schrecklich müde; der Tag war stressig, und ich bin froh, wenn ich nicht schon während der „Tagesschau“ einschlafe. Vielleicht ein anderes Mal.“
Natürlich wusste ich, dass es aufgrund meiner zugemüllten Wohnung kein anderes Mal geben würde, war jedoch weit davon entfernt, diesen Umstand zu bedauern. Sven war nicht der Mann, der mich vom Messie-Syndrom hätte kurieren können. Das vermochte allenfalls Mark, aber der kümmerte sich nicht mehr um mich.
Ich hatte mich im Laufe der Jahre so sehr verändert, dass ich mich selbst kaum wiedererkannte. Früher war ich gern mit Bekannten ins Theater gegangen, wenn Mark in seinem Billardclub war. Nach unserer Scheidung nahm ich jedoch kaum noch am kulturellen Leben teil. Wenn ich nicht, wie so oft, auf der Jagd nach „Schnäppchen“ war, verkroch ich mich abends in meiner „Messie-Höhle“, anders konnte man meine Wohnung leider Gottes nicht mehr bezeichnen. Schmutz und Schimmel hatten die Oberhand gewonnen, und aus manchen Ecken wehten mich unappetitliche Gerüche an. Einerseits schämte ich mich entsetzlich für den verwahrlosten Zustand meiner Wohnung, andererseits sah ich mich nicht in der Lage, für Sauberkeit und Ordnung zu sorgen. Es überstieg mittlerweile meine Vorstellungskraft, dass es mir ohne Hilfe gelänge, die Wohnung zu entrümpeln. Meine Sammelobjekte stapelten sich mancherorts bis unter die Zimmerdecke. Es gelang mir kaum noch, mich durch die schmalen Gänge inmitten dieses Chaos’ zu zwängen, ohne irgendwo anzustoßen. Nicht dass mich das gestört hätte, im Gegenteil: Ich fühlte mich von meinen Besitztümern liebevoll „angestupst“. Mir fehlte ganz einfach die Kraft, mich aus der häuslichen und seelischen Verwahrlosung zu befreien; aber helfen lassen wollte ich mir schon gar nicht. Dafür war ich viel zu stolz.
Selbst ein positives Erlebnis während einer Kunstauktion führte keinen Wandel in meinem Leben herbei, obwohl mir der Mann, der mir dort über den Weg lief, nicht mehr aus dem Kopf ging. Er hatte mein Gebot zu einem aufwändig illustrierten Jugendwerk, das ich als Kind besaß, getoppt und den Zuschlag für den spannenden Roman erhalten. Als wir später in der Ausgangshalle aufeinander trafen und mein sehnsüchtiger Blick auf das vertraute Cover fiel, hielt er mir wortlos das Buch hin. Ich hätte nur zugreifen müssen. Stattdessen verwirrte mich die unerwartet freundliche Geste dermaßen, dass ich Hals über Kopf die Flucht ergriff. Als ich meine Wohnung betrat, raste mein Herz immer noch ‑ ganz gewiss nicht allein aufgrund des flotten Tempos, mit dem ich nach Hause geeilt war.
Obwohl ich alkoholischen Getränken noch nie etwas abgewinnen konnte, genehmigte ich mir hin und wieder ein Gläschen Likör, wenn ich einen „Superdeal“ auf dem Flohmarkt „gelandet“ hatte. Oft waren es wertlose Wasserhähne aus Messing oder kitschige Sammeltassen, die meine Begeisterung entfachten. Oder ich bestellte mir in irgendeinem Café einen Cognac, weil mir ein preiswertes Buch in Sütterlinschrift in die Hände gefallen war, das ich vor meiner „Messiezeit“ mit Begeisterung studiert hätte, damals jedoch aufgrund meiner Erkrankung ungelesen dem Chaos überließ. Wenn „Happy Hour“ anbrach, schlug auch meine Stunde, aber ich war weit davon entfernt, wirklich happy zu sein. Mein Messie-Syndrom entwickelte sich zu einer manisch-depressiven Zwangsstörung mit schwindelerregenden Höhen und Tiefen voller Selbstzerfleischung. Mittlerweile war ich ernsthaft davon überzeugt, dass meine dubiosen „Schätze“ soziale Kontakte ersetzen konnten.
Dann zog jener schicksalshafte Sonntag herauf, der mich noch tiefer ins Elend stürzen sollte. Ich erinnere die Ereignisse jener schmachvollen Stunden wie den gestrigen Tag. Mein Telefon klingelte, nachdem es längere Zeit völlig verstummt war. „Mark“, durchfuhr mich ein freudiger Schreck. Ich sprang aus dem Bett und suchte diesen verflixten Apparat, den ich irgendwann in eine Ecke gepfeffert und zugemüllt hatte, weil mir die geheuchelten Anteilnahmen so genannter Freundinnen auf die Nerven gingen. Kurze Zeit später war das antike schwarze Monstrum unauffindbar ‑ als hätten es die Küchenschaben gefressen, die sich in meinen drei kleinen Räumen im rasanten Tempo vermehrten. Vermutlich lag das fossile Teil unter Gebirgen „fast geschenktem“ Oma-Kattun, an denen selbst die Motten zu knabbern hatten.
Das Klingeln verstummte, was ich zu meiner Verwunderung bedauerte. Mir war an jenem Tag
Ich war noch nie Messie - aber ich hoffe, dass ich das richtig nachempfunden habe.