Küssen streng verboten!

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von Gherkin Green

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EINE WUNDERSAME BEGEGNUNG

Nun also begab es sich, dass den Eheleuten Rufus und Annegret-Rosalinde Zetterzee im Jahre 2022 ein Mädchen geschenkt wurde. Es war sehr niedlich anzusehen. Kurz nach der sehr schweren Geburt meinte die strahlende Mutter:

„Unsere Tochter ist so unfassbar süß und Engel gleich, wir sollten das Mädchen nun Engeline nennen.“ Der Vater konnte nicht sprechen vor lauter Glück. Er küsste immer nur die nasse Stirn seiner Frau, sah seine Tochter an, weinte ein wenig, und nickte dann schließlich. Ja, Engeline soll sie heißen, da sie unleugbar himmlischen Gefilden entsprungen schien. Solch einen Engel hatten sie sich gewünscht, die Zetterzees, und, pardauz, da fiel er auch schon vom Himmel.

Wieder daheim, nunmehr zu dritt, kam es zu merkwürdigen Begebenheiten. Das winzige Mädchen schrie, wann immer es geküsst werden sollte. Die Mutter war so glücklich, dass ihr Herzen und Knuddeln, ihr Küssen und Streicheln kein Ende zu nehmen schien. Es war ihr erstes Kind. Sie konnte nicht fassen, dass es solch winzig kleine Fingerchen geben konnte, so ein unglaublich niedliches Näschen, solch unfassbar kleine Füßchen.

Engeline ließ sich, sichtlich vergnügt, diese Füßchen gerne küssen, auch ließ sie es zu, wenn man ihr Bäuchlein mit dicken Schmatzern bearbeitete, doch das Geschrei war stets sehr groß, näherte sich ein Mund, so ein erschreckend riesiger Mund eines Erwachsenen, ihrem Gesicht, um ihr einen Kuss auf die Lippen zu drücken.

Die Eltern liebten ihr Kind so sehr, dass man es kaum in Worte zu kleiden vermochte und auch das Kind strahlte seine Eltern glücklich an. Es gab da nur diesen kleinen, etwas irritierenden Aspekt: Das winzige Mädchen wollte sich nicht auf die Lippen küssen lassen. Die Wangen? Ja, das ging gerade eben noch durch. Die Stirn, gerne auch die Öhrchen, sicher, aber der Mund war tabu. Kreischanfall, falls es einer auch nur versuchte.

Da hub ein solches Getöse an, dass allein der Versuch bereits im Ansatz erstickt zu werden drohen musste. Schließlich gaben es die Eltern auf. Dann eben kein Kuss auf die Lippen. Und sie küssten Engelines Füßchen, Händchen, Bäuchlein und die rosig- pausbäckigen Wangen. Schon bei der Stirn wurde das kleine Mädchen unruhig. Die Wangen-Küsse erzeugten leisen Widerwillen. Aber stelle sich einer das markerschütternde Gebrüll vor, wenn Vater oder Mutter einen Kuss auf die Lippen zu geben beabsichtigten.

Wer jemals das volle Konzert erlebt hat, bei einem Neugeborenen, wenn es all diese unerträgliche Not, diesen Kummer und das ganze Elend der noch so jungen Existenz in die Welt hinaus brüllt, der kann, in etwa ermessen, wie heftig Engeline tönte, wenn man sie zu küssen suchte. Diese Lautstärke traut man dem so winzigen Klangkörper eigentlich kaum zu. Und doch schaffte solch eine „Prinzessin Winzigkeit“, wie die Mutter, Anne-Rosa, ihre Tochter gerne nannte, fast 140 Dezibel an Lautstärke, wenn sie, vor Liebe fast überquellend, ihr kleines Mädchen auf den Mund küssen wollte.

War es ein Klagegeschrei? War es Abneigungsgebrüll? War es vielleicht eine Art Notsignal? „Ihr sollt mich nicht auf den Mund küssen!“ Mittlerweile war die Kleine schon so clever, es zu erahnen. Wann immer sich ein Mund dem ihren näherte, erklang die gewaltige Sirene, ertönte das komplette Orchester. Alles, was der kleine Körper aufzubieten in der Lage war an Gewalt, an Lautstärke und an Intensität, das entströmte ihm dann auch. Küssen verboten! Wer es auch nur versuchte, hatte damit zu rechnen, dass dieses Herz zerfetzende und Seelen zermarternde Gebrüll gute 20 bis 30 Minuten anhielt. Eine gewisse Nachhaltigkeit in der Bemühung, allen zu sagen und mitzuteilen: Ihr lernt es sicher noch, ihr dummen Eltern - aber ein für alle Male bitte ich mir dies aus: Küsst mich nicht auf den Mund! Sonst was? Richtig! Heulalarm.

Ob Oma, Tante oder später im Kindergarten der kleine Junge, keiner durfte, aber alle wollten. Diese süßen Lippen waren ja gar zu aufgeworfen, knuffig und lieblich. Sie schienen zum Küssen wie geschaffen. Doch die Besitzerin, kess, kokett und keck, lehnte jeden Antrag ab! Jeden. Selbst dann, als in der Grundschule der unglaublich süße Jan-Peter sie bezirzte und umgarnte, sie war mittlerweile zu einer entzückend-unschuldigen Prinzessin heran gereift, konnte dies ihr junges Herz nicht erweichen. Alle Mädchen träumten von einem Jan-Peter-Kuss. Doch Engeline blieb hart. Keine Küsse! Never! No way! Nada! Njet! No beses! Küssen streng verboten!

Als Engeline schließlich 18 wurde, gab es eine große Geburtstags-Party für sie. Sie hatte den einen oder anderen Freund gehabt, seit sie mit 14 ihren Fokus verlagert hatte, von den Puppen, Kinder-Schminktischen und -koffern hin zu den Jungs und all den Geheimnissen, die diese so umgaben. Mal waren sie unverschämt süß, dann wieder widerborstig und gemein. Aber genau das machte ja auch diese immense Anziehungskraft aus. Noch verstand sie kaum etwas. Blickt der einen hinterher, während er die andere an der Hand durch den Park führt. Diese Jungs... Welches junge Herz sollte das begreifen? In ihr entdeckte sie ein starkes Sehnen und ein merkwürdiges, sehr heftiges Begehren. Sie sehnte sich nach einer leidenschaftlichen Umarmung, auch nach körperlicher Liebe, nach Zuneigung, Verständnis und Geborgenheit, nach Nähe und Wärme, nach Zärtlichkeit und nach so vielem Unbekannten, aber eben nicht nach Küssen auf den Mund. Ja, das unterschied sie sehr von ihren Geschlechtsgenossinnen.

Die hatten Ranglisten im Umlauf. Und es gab ständig Updates. Wer küsst besser als Bennie? Denn Bennie war der absolute Traumprinz. Aber das Küssen hatte er nicht erfunden. Er küsste zu nass, zu lasch, zu lustlos. Kein Feuerwerk. Dagegen hatte Paul nicht gerade das hübscheste Gesicht, aber küssen konnte er wie der Teufel persönlich. Die Rangliste changierte nahezu wöchentlich. Engeline hatte keinen Beitrag dazu leisten können, eben der fehlenden „Experience“ wegen; im Englisch-Unterricht wurde gelehrt, es so auszusprechen: ikˈspi(ə)rēəns.

Natürlich fanden es die anderen merkwürdig. Sehr merkwürdig. Ein Mädchen, das nicht küssen wollte? Die Jungs mieden sie alsbald. Engeline vereinsamte. Zu all den Knutsch- und Fummel-Partys wurde sie nicht mehr eingeladen. Das Gerücht ging um: Engeline ist lesbisch. Doch das war überhaupt nicht der Fall. Sie sehnte sich ebenso wie alle anderen Mädchen nach Liebe und Zärtlichkeit, nach Körperlichkeit und nach Leidenschaft. Früh hatte sie festgestellt: Sie war eindeutig hetero. Ergo konnte und wollte sie nicht auf die Avancen der an und

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