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für sich sehr netten Carla eingehen. Die hatte sie mal spätabends im Schmettenhausener Park auf den Mund küssen wollen. Doch das Küssen lehnte sie strikt ab. Ob das nun ein Junge oder ein Mädchen war. Das missfiel den Gleichaltrigen, ergab keinen Sinn für sie, leuchtete einfach nicht ein. Wie Paul es gerne sagte: „Ein Junge möchte doch sein Mädchen küssen! Ehrensache! Küssen ist die halbe Miete. Das ganze Potenzial an Zuneigung... Die Akkus werden durch nur einen Kuss wieder voll aufgeladen!“ So viel dazu, von Paul. Dem besten Küsser der Klasse.
Drei feste Freunde hatte sie gehabt, bisher. Doch machten die Jungs spätestens nach 2 oder 3 Monaten Schluss, wenn sie über die Zeit, nach 50 - 60 Anläufen, immer noch keinen Kuss erlaubt bekamen. Nicht mal knutschen wollte diese Braut, meinte Bennie, der Klassenprimus. Ja, auch Bennie war mit Engeline 'gegangen'. Aber nur gerade mal 12 Tage. Die anderen Mädchen konnten Engeline verstehen. Der Nassküsser war nicht gerade der Hit. Als sie dann aber bald erfuhren, dass Engeline den Bennie nicht einmal getestet hatte, nicht mal einen Kuss von ihm erhalten hatte, da waren sie allesamt ratlos. Was sollte das denn jetzt? Ist die meschugge? Doch lesbisch? Asexuell? Vielleicht, so wurde gemutmaßt und gemunkelt, könnte Engeline ein Transgender sein. Einer prägte den bis dato völlig unbekannten Begriff: Fem-metrosexuell. Er konnte ihn selbst nicht definieren, aber es klang tadellos interessant. Oder, wie er selbst, Achim Konck, sagte: Konkret krass korrekt. Bennie musste natürlich dagegen halten, mit einem off-topic threat: Alder, ich schwör krass konkret auf meine mächtig baumelnden Klöten, du bist ultrakrass konkret voll die letzte Stufe vor dem Banausentum! Dies brachte ihm einige Credits bei den wirklich harten Typen ein, doch Achim sprach lange Zeit nicht mehr mit Bennie. Der hatte immerhin mal unter Engelines Bluse fassen dürfen, aber geküsst hatte er sie nie. Rigorose, äußerst strenge Verweigerung!
Das Geheimnis kam ans Tageslicht. Ab dieser Zeit war Miss Zetterzee, despektierlich auch mitunter „Miss Zitterknie“, so wurde sie bald nur noch genannt, eine Art Unikum, eine tragische Figur, eine arge Scheinheilige, ein seltsam-befremdendes Mädchen, eine Außenseiterin. Wie kann man denn nur NICHT küssen wollen?! Das verstand kein Mensch! Sparte sie sich auf? Für wen? Und für wie lange? Virginität bis zum Tag der Eheschließung? Aber Küssen ist doch nun wirklich harmlos.
Wer lehnt denn das Küssen ab? Das ist ja fast so, als würde einer sagen: "Mir reicht´s jetzt, ich werde nicht mehr atmen! Das Atmen liegt mir nicht. Ich will das nicht. Nein, mit mir nicht mehr. Ab heute atme ich nicht mehr! So! Sollen doch mal alle sehen, was sie davon haben (hält die Luft an, läuft nach 3 Minuten bläulich an)..."
Engeline, sorgfältig befragt, meinte nur: „Ich bin nicht interessiert. Wenn ich andere sehe, ich meine, beim Küssen, dann wird mir schlecht. Ich finde diese Küsserei ganz einfach schrecklich, widerlich, furchtbar...“ Es war nicht so sehr die Angst vor all den Krankheitserregern, die sie umtrieb. Auf gar keinen Fall war dies eine Spätreaktion auf die Covid-19-Pandemie anno 2020. Nein, es war einfach das Küssen an und für sich. Dieser, tja, „Vorgang“ eben. Das Aufeinanderpressen der Lippen, das Geschmatze und Gesabber, all das nass-feuchte Geschleime. Für sie war das ultra-eklig. Extrem entsetzlich. Schon der Gedanke daran ließ sie würgen. Nie sah sie sich Liebesfilme an. Küssten sich Pärchen im Schmettenhausener Park, sah sie recht indigniert weg. Sie konnte es noch nicht einmal ertragen, wenn ihre Eltern sich vor ihr heftig küssten. Wahrscheinlich dachten die beiden, ein gewisser "Anschauungsunterricht" könne Erfolg zeitigen, daher küssten sie sich oft und gern. Es war eine funktionierende, glückliche Ehe. In diesen Zeiten selten. Seit Corona hatten die Scheidungen wieder zugenommen. Engeline blieb eisern ihrer Maxime, der kategorischen Doktrin treu: Küssen streng verboten!
Mit dieser Meinung war Engeline natürlich allein. Die anderen konnten sich nichts Schöneres vorstellen, als im Arm eines richtig süßen Jungen zu liegen und sich hemmungslos seinen feuchten Zungenküssen hinzugeben. Engeline erschauderte bei solchen Gedankengängen. Ihr war das zuwider. Wieso überhaupt küssen? Man konnte sich doch streicheln, zärtlich anfassen, auch mal fest drücken. Aber küssen? Nein, das war nichts für sie. Igittigitt. Würg.
Und so blieb sie allein. An ihrem 18. Geburtstag waren lediglich 4 Hardcore-Fans zu ihrer Fete gekommen, mehr leider nicht. Trotz Zusage von immerhin 16 Personen. Es waren nur 4 Freunde da, 2 Mädchen und 2 Jungs. Und das waren 2 Pärchen. So also stand Engeline an ihrem 18. Geburtstag allein im wunderschön geschmückten Zimmer und schaute, innerlich bebend, all dem Geknutsche und Abgeschlecke zu. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie verschwand von ihrer eigenen Party, ging zum Stadtbrunnen hinunter und setzte sich dort weinend hin, am Denkmal der "Sieben Luft küssenden Schwestern" (von Alexander Rosenschein, dem Älteren). 18 Jahre alt ist sie jetzt, und sie würde niemals einen Jungen, einen Mann für sich haben. Niemand würde sie haben wollen, sie, die peinliche Nicht-Küsserin, die strikte Kuss-Gegnerin, die Kuss-Phobikerin (Filemaphobie genannt) Engeline.
In der Tat hatten, seit sie bewusst lebte, niemals fremde oder verwandte Lippen die ihren berührt, mit einer deutlichen Kuss-Absicht. Nie. NIEMALS. Darauf war sie nicht unerheblich stolz. Das Tragische daran: Engeline war mittlerweile zu einem wunderschönen Mädchen heran gereift. Engeline war ein Fleisch gewordener Männertraum. So schön und so wundervoll, dass es fast schon ein wenig schmerzte hinterm Sternum, verfiel man der süßen jungen Frau in tiefer Liebe. Und ja, dazu bedurfte es mitunter nur eines einzigen, glutvollen Blickes.
Es gab nicht wenige, die in den Grundfesten erschüttert schienen, weil sie so sehr in Engeline verliebt waren. Dutzende davon gab es. Doch die unnahbare Miss Zetterzee gab allen einen Korb. Wusste sie doch, worauf all das hinaus laufen würde. Am Ende stand doch immer der Kuss. Den sie nicht wollte. Den sie so sehr hasste. Den sie nun einmal nicht ertragen konnte und wollte. Daher, leider: Solitude, Loneliness und Anthropophobie umgaben das hübsche Mädchen. Eine leicht tragische Nuance hielt Einzug in ihren Blick, Schwermut im Auge, eine gewisse Melancholie begleitete all ihre Worte, ihr Handeln, das Fluidum ganz allgemein. Die Jungs meinten: Die zieht einen echt runter. Wenn