Küssen streng verboten! - Page 3

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von Gherkin Green

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man mit der länger als 15 Minuten allein ist, bist du für den kompletten Tag deprimiert, Alder. Und die Mädchen sagten: Gib dich bloß nicht mit der ab. Miss Zitterknie ist die „dark princess“, immerzu voll Goth, ohne wirklich Goth zu sein. Schief gewickelt ist bei der gar kein Ausdruck.

So entschied sich Engeline Zetterzee also, den Menschen fürderhin dienlich zu sein. Ihr Berufswunsch: Krankenschwester. Sie begann somit eine Ausbildung im Jockel-vom-Anschütz-Hospital in Schöllkrippen-West, und wohnte in dieser Zeit im Schwesternheim in Schabernack, einem Ortsteil Schöllkrippens, nur 2,4 km vom großen Hospital-Komplex entfernt. Engeline fühlte sich wohl dort. Endlich einmal ging es nicht um Jungs, um all das, was sie selbst gerne „Viel Lärm um Nichts“ nannte, Liebelei und Tändelei, Flirten, Fummeln, Knutschen und Küssen. Endlich ging es um ihre Zukunft, um die wichtigen Fragen im Leben: Wovon bezahle ich meine Miete? Wie kann ich den Menschen sinnvoll helfen? Welche Aufgabe hat Gott für mich in diesem Leben bereit gestellt? Kann ich mir das schicke aber sündhaft teure Kleid aus der Boutique "Nanette" leisten? Dazu bräuchte ich aber unbedingt diese pinken Pumps... Und die sind wirklich unanständig teuer. Wahnsinn!

Mit echtem Eifer und großer Freude widmete sie sich der bisweilen anstrengenden Ausbildung. Während der dreijährigen Ausbildung müssen 2.100 Stunden in die Theorie und 2.500 Stunden in die Praxis investiert werden. Eines Morgens, es war erst der 2. Ausbildungsmonat, wurde das Beatmen eingeübt. An einer Silikon-Puppe.

Die A-B-C Methode (für: Airway = Atemwege freimachen; Breathing = Beatmen; Chest compressions = Herzdruckmassage) sollte geübt werden. Und alle Mädchen hier waren verpflichtet, diese Methode unter strenger Aufsicht zu demonstrieren.

Während die Ausbildungsleiterin ihren Text, zum wahrscheinlich 724. Male, aufsagte: „Legen Sie eine Hand auf die Stirn des Patienten, Mittel- und Zeigefinger der anderen Hand platzieren Sie dann unter die Kinnspitze...“, hatte Engeline nur Augen für diese, in ihren Augen wunderschöne Gestalt dort. Den Beatmungs-Dummy. Ja, es war nur eine Silikon-Puppe. Und noch nicht einmal komplett. Da lag nur ein Oberkörper und ein Kopf. Aber dieser Kopf, dieser Oberkörper... Du meine Güte... Blut schoss in ihre Wangen, sie errötete so stark, dass einige der insgesamt 9 Schwesternschülerinnen im Raum es bemerkten, nicht aber die Übungsleiterin. Keiner kannte ihr Geheimnis. Sie hatte es sehr sorgsam vermieden, jemals davon zu erzählen. Eines der Mädchen neben ihr meinte scherzhaft: „Keine Angst, du musst ja nicht die Nacht mit „Charly“ verbringen. Du musst ihn nur küssen. Und danach, Süße, eine Zigarette angesteckt und ab dafür... Schon hast du´s hinter dir!“ Und sie lachte herzhaft. Engeline war ihr dankbar. Immerhin kannte sie jetzt den Namen des hübschen Jünglings - Charly. Wie konnte ein Kerl nur so unverschämt gut aussehen... Und dieses Lächeln. Der Lippenschwung, die edle Nase. Hach....

Dieses wunderfeine Antlitz. Dieser klassisch schöne Kopf, nahezu griechisch. Engeline hatte sich Hals über Kopf in die Puppe namens Charly verliebt. Sie sehnte den Augenblick herbei, da sie endlich an die Reihe kommen würde.

Als sie dann dran war, als Vorletzte, hämmerten ihre Schläfen, das Herz raste. Sie würde Charly jetzt küssen. Auf ihrer niedlichen Stupsnase zeigten sich einige kleine Schweißperlen, die Nasenflügel bebten, aber sie ging es tapfer an. Immerhin werde ich ja nicht geküsst, dachte Miss Zitterknie. Nein! ICH küsse einen Mann. Und nicht umgekehrt. Also beugte sie sich zu Charly hinab, legte zärtlich ihre Lippen auf die seinen - und küsste diese wundervollen, sanft geschwungenen, schönen Lippen. Selbstredend mit geschlossenen Augen, genießend.

Es war einer jener Augenblicke im Leben eines Menschen... Unvergesslich schön.

Dabei hörte sie den zähen Laber-Quark der Leiterin sanft in ihr Ohr tröpfeln: „Falls der Mund des Patienten nicht geöffnet ist, öffnen Sie ihn etwas. Anschließend drehen Sie die Hand auf der Stirn so, dass Sie mit Zeigefinger und Daumen die Nasenflügel des zu Beatmenden erreichen... Gut so. Mit Zeigefinger und Daumen halten sie nun vorsichtig die Nase des Patienten zu...“ Wie verschwommen, aus einem Dickicht von weiß-fluffigen Wattebäuschchen drang die Stimme herüber. Engeline achtete nicht sonderlich darauf. Sie küsste... Und wie sie küsste. Ekstatisch, entfesselt, gierig und sehr feucht. Schier endlos lang, sehr heftig und immer und immer wieder küsste sie diesen herrlichen, wunderschönen Jüngling, der so nackt und bloß, so verletzlich vor ihr lag, und sie mit einem bezauberndem Blick voller Bewunderung und, ja auch, tiefster Zuneigung bedachte. Charlys Brust tastete sie dabei leidenschaftlich ab. Das war mal ein Sixpack... Ihre Erregung konnte sie nicht mehr verstecken. Nahezu wollüstig umfing sie die Puppe. Schwer atmend, fast keuchend. Und auch ein wenig lüstern...

Gelächter brach los. Das reinste Gewieher. „Die ist ja in Charly verliebt!“ hörte sie. Es war die Hölle. Und die Übungsleiterin warf ihr einen Blick zu, der zu verheißen schien „Das ist mir einen Eintrag in deine Akte wert, mein Fräulein Sonderbar!“

Engeline nahm den Dummy an sich, rannte schnurstracks aus dem Saal, aus dem Haus, runter auf die Straße, und flitzte, so schnell sie nur konnte, zu ihrem Auto, einem neongrünen Mini One. Dort setzte sie Charly neben sich auf den Beifahrersitz, redete ihm gut zu. „Nur keine Angst, mein Liebling. Wir sind bald in Sicherheit. Ich bringe dich an einen Ort, an dem du nicht ständig von hungrigen Mäulern umgeben bist, die dich unentwegt zu küssen suchen. Wir sind bald ganz allein. Dann gibt es nur noch dich und mich... Und nur noch ICH werde dich ab heute küssen! Das verspreche ich dir, mein Schatz!“

Und ihr wurde fast schwindlig vor lauter Glück. Charly und Engeline. Engeline und Charly. Das klang wie Musik. Sie strahlte. Ihr war es egal, dass sie nun eine Ex-Schwesternschülerin war, zudem als Diebin gebrandmarkt. Ihr war es egal, dass die Zukunft nun nicht mehr ganz so rosig ausfiel. Und ihr war es auch egal, dass sie ihre Mutter und auch ihren Vater nun sehr schwer enttäuschen würde. Den beiden hatte sie bisher nichts als Freude gemacht. Immer anständig geblieben, nie geraucht und niemals getrunken, keine Eskapaden, keine Aufmüpfigkeiten, kein Rebellieren, nie ein Widerwort. Sie hatte ein sehr gutes Zeugnis nach Hause gebracht, Jahr für Jahr, und sie bestand auch die Prüfungen für den mittleren Bildungsabschluss. Ihre Mutter freute sich sehr, als Engeline dann verkündete, Krankenschwester werden zu wollen. So sehr, dass sie dabei einige Tränen vergoss. Sie schloss die Tochter in die Arme und, kurz nur, wollte sie ihr einen Kuss auf den Mund geben, doch das wurde abrupt und sehr strikt abgelehnt. Man trennte sich ernüchtert. Die Mutter wischte die Tränen fort, bemühte sich um ein glückliches Gesicht, und fuhr der Tochter sanft durchs Haar: "Gut gemacht, mein Mädel, sehr gut gemacht!"

Und nun das... Die Ausbildung abrupt abgebrochen. Den Dummy gestohlen. Alles schien aus und vorbei zu sein. Von nur einer Minute zur anderen. Würden die Eltern das verkraften? Könnte daran vielleicht sogar die glückliche Ehe scheitern?

Wenn das Herz spricht, ach was, wenn es in dieser Form schreit und brüllt, dann ist alles andere Nebensache, Mumpitz und Larifari. Wenn sie eines gelernt hatte in ihrem Leben, dann doch dies: Höre auf dein Herz, auf deine innere Stimme. Und die sprach jetzt munter auf Engeline ein: Das machst du richtig, Mädchen! Genau so soll es ja auch sein. Den Traumprinzen gefunden, und ab mit ihm ins ungewisse Morgen! Es zählt nur das Jetzt und das Heute. Was morgen sein wird, findet sich dann schon. Mach Strecke, Mädchen, verschwinde aus dem bisherigen Leben in ein neues, sicher sehr aufregendes, wunderbares Leben zu zweit! Reite mit deinem Prinzen ins Abendrot. Alles Weitere würde sich schon finden.

Diese wundersame Begegnung, sie veränderte das Leben der jungen Engeline M. Zetterzee komplett. Sie lebte fortan mit Charly, an ständig wechselnden Adressen, unter permanent wechselnden Namen, in ständiger Angst vor dem Gesetz. Ihre Eltern kontaktierte sie nicht mehr, was ihr sehr schwer fiel. Sie wurde sonderbar. Lebte nur noch in billigen Hotels, verkaufte ihren wunderschönen Körper an mehr als schmierige Typen, die nach billigem Fusel und Zigarettenqualm stanken. Ihr erster Satz, gleich zur Begrüßung, lautete: „Küssen verboten!“ Wer das nicht akzeptierte, musste wieder gehen, unverrichteter Dinge. Sie kam über die Runden. Aber leider begann sie auch zu trinken und zu rauchen. Ab und an sogar illegale Substanzen. Am Ende blieb sie bei "K 2" kleben. Billig, hochwirksam, leicht zu beschaffen und in hohen Dosen an diversen versteckten Orten in ihren jeweiligen angemieteten Räumem zu finden. Das "Spice" der neuesten Generation, sie hatte immer welches.

Aber Charly blieb immer bei ihr. Er war treu, loyal und so integer. Er ging nicht fremd, er blickte keiner anderen hinterher, er verhielt sich so, wie man es von einem „sicheren Hafen“ erwarten durfte: Er bot seine breite Brust an, zum Trost und zum Aufladen der Energie-Akkus, er alterte nicht, hatte einen wunderbaren Teint, lächelte stets, ganz egal, in welch ekelhaftem Raum über welch verräucherten und sogar verruchten Kaschemmen - oder in welcher übel beleumdeten Absteige Engeline sie gerade untergebracht hatte, er hatte immer Zeit für seine nach und nach nicht mehr gar so wunderschöne Geliebte, machte alles mit und sprach dazu kein einziges Wort, kurz, Charly war der ultimative Lebensgefährte, schweigsam, schön und herrlich schlank geblieben. Keine Falte verunzierte sein Gesicht. Auch wirkte er nie besorgt.

Jetzt hatte sie sich im „Altstädter Hof“ unter dem Namen Beatrice M. Nebenhöhler eingetragen. Sie hatte eine Flasche Whiskey geordert. Als die dann vor ihr stand, kamen Engeline Tränen in die Augen: „Ach ja, wenn die einzigen Vertrauten ihr seid, Jim Beam, Jack Daniel´s und Johnnie Walker, neben meinem geliebten Charly, so ist das Leben wohl verpfuscht. Doch werde ich, der Abwechslung zuliebe, auch einmal eine Frau in mein Leben lassen. Die gute alte Maria wird Einzug halten. Mariacron! Aus der Nähe von Oppenheim. Vom Kloster Mariacron. Ja, ich glaube, eine solche Freundschaft könnte meinem Leben ein wenig Auftrieb geben...“ Sie musste jetzt doch lachen. Und Engeline lachte auch, mit Tränen in den Augen. Angeheitert, traurig und dennoch stark belustigt schaute sie auf ihren Geliebten, den Silikon-Mann Charly, ihrem Mann (oft abschätzig Übungspuppe genannt, oder Reanimations-Torso):

„Du, mein Schatz, bist die einzige Konstante in meinem Leben. Du allein bietest mir Sicherheit und beständige Freude. Ich liebe dich sehr, Charly!“ Prostend nickte sie, mit dem Glas in der Hand, ihrem Gatten zu. Ja, das war er für sie. Ihr Gatte. Und gleichzeitig der einzig geküsste Mann in ihrem ganzen Leben. Daneben gab es nur 4 Freunde: Jim, Jack, Johnnie und Maria. Die Eltern hatte sie nie angerufen. Natürlich war sie von ihren Eltern, das war jetzt schon 21 Jahre her, als vermisst gemeldet worden. Die Polizei hatte zu Beginn noch recht bemüht nach ihr gefahndet, der "abgängigen Engeline M. Zetterzee", doch mit den Jahren ließ der Eifer nach. Die Eltern fanden sich mit dem Schicksal ab, ihre Tochter verloren zu haben, und ließen sie schließlich, an Engelines 40. Geburtstag, für tot erklären. Schluchzend standen beide an einem improvisierten Grabstein. Anne-Rosa sagte, unter Tränen: "Sie hat sich nie küssen lassen, erinnerst du dich?" Da musste dann auch ihr Mann heftig weinen. Und beide erinnerten das winzige, süße, knuffige kleine Mädchen, wie es strahlend im Kinderbettchen gelegen und die kleinen Ärmchen nach den Eltern ausgestreckt hatte.

Das Telefon klingelte. Sie hob ab: „Nebenhöhler?“ Der Portier meldete sich und entschuldigte sich für die Störung. „Ein Herr Müller möchte sie gerne sprechen. Meinte, er habe einen Termin. Darf er zu Ihnen raufkommen?“ Müde sagte Beatrice M. Nebenhöhler: „Ja sicher, schicken Sie ihn mal ruhig hoch...“ Sie trug Charly zum Schrank, wickelte ihn dort in einen großen Schal, verschloss den Schrank sorgfältig und legte den Schlüssel in ein Seitenfach ihres Koffers, und richtete sich dann ein wenig her. Immer hießen sie Müller, Schmidt oder Meier. Immer. Sie seufzte. Man muss ja leben auch... Es klopfte zaghaft an der Tür. Sie öffnete, mit einem leicht vergilbt wirkenden, „strahlenden“ Lächeln: „Küssen ist nicht bei mir, Liebling! Sonst geht alles, aber eben nicht küssen! Das Geld bekomme ich im Voraus.“

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