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Der junge Mann im weißen, geknöpften Baumwollhemd trägt eine Gitarre auf dem Rücken. Er strebt, es sind noch 20 Min. bis Mitternacht, gemessenen Schrittes dem bestimmten Punkt zu, den er stetig fixiert. Eine heißschwüle Mittsommernacht, es ist exakt der 12. August 1932, im Coahoma County, er weiß, hier leben etwa 20.000 Einwohner. Dies ist der 225. Tag des Schaltjahres ‘32, mit 366 Tagen. Ein Freitag, und sehr bewusst gewählt von ihm, dem hoffnungsfroh gestimmten jungen Mann mit seiner Gitarre. Ein Jahr der Wanderschaft hatte er hinter sich gebracht, zusammen mit Ike Zimmerman. Und er hatte dabei einiges gelernt. Doch, mittlerweile konnte sich die Kunst des Saitenspiels durchaus sehen lassen. Ausgereift schien sie noch nicht. Dessen war er sich auch sehr wohl bewusst. Sein Gang ist federnd, aber gelassen. Er ist sehr schlank, trägt einen weichen Filzhut mit breiter Krempe, der längs der Krone nach unten geknickt und an der Vorderseite noch an beiden Seiten eingekniffen ist, auf dem rasierten Schädel mit dem markanten Mittelscheitel. Hier geht ein unsteter Geist, ein Vagabund, ein Hobo, der rein gar nichts mehr zu verlieren hat.
Und ihm fallen, urplötzlich, Johann Gottfried Herders Verse ein:
Was singt in euch, ihr Saiten?
Was tönt in eurem Schall?
Bist du es, klagenreiche,
geliebte Nachtigall?
Wunderschön, denkt der kaum 21jährige, seit kurzer Zeit erst zum bereits zweiten Male verheiratet. Der Herder-Text ist aus dem Jahr 1787. Gerne würde er ihn einmal im Original hören.
In der englischen Fassung geht leider ein wenig des Zaubers des Originals verloren:
What is singing in you, strings?
What is sounding in your sound?
Is it you, lamentable,
beloved nightingale?
Die Gibson Kalamazoo auf seinem Rücken tanzt mit, bei jedem Schritt. Plötzlich bleibt der Afro-Amerikaner stehen. Er klemmt beide Daumen unter die Hosenträger und mustert die Bäume.
Es sind Sycamore Trees (die amerikanische Platane), und sie stehen links entlang der 616 N State Street. Er befindet sich in der Stadt Clarksdale, Mississippi. Langsam geht er jetzt auf einen Baum zu, der es ihm besonders angetan hat. Wohl gut 40 m hoch, er schätzt den Stammdurchmesser auf vier Meter. Er befühlt die Borke. Sie ist schuppig, grau-braun-weißlich. Zart streicht der junge Mann darüber. Sommergrün, so mächtig, er ist beeindruckt, sinniert einige Zeit, dann reißt er sich förmlich zusammen, strebt erneut dem Zielpunkt zu, ihn erneut genau erfassend. Langsam taucht zur Rechten das ihm wohlvertraute „Bungalow Inn“ auf. Abraham Davis, ein Einwanderer aus dem Libanon, hatte es 1924 eröffnet. Erst 32 Jahre jung, hatte jener dennoch einen Erfolg in diesen letzten 8 Jahren erzielt, der nur dem wirklich Tüchtigen zuteil wird, sofern er sich vom Alkohol, vom Glücksspiel und den fremden Frauen fernhält. Dem jungen Mann sind die Laster nicht fremd. Doch Abe hatte allem entsagt (und somit den Erfolg für sich gepachtet). Mit 24 ein Restaurant zu eröffnen, als Einwanderer, das ist aller Ehren wert. Und das Abe´s wird noch heute betrieben.
Du findest in ganz Mississippi kein besseres Barbecue! Davis schien ein Wizard, ein Zauberer zu sein. Der Begriff „Er leckte sich alle Finger nach solch einem Genuss“ soll tatsächlich auf Abe´s Barbecue zurückgehen, dem Magier am Grill. Ja, heute noch steht, etwas versetzt, das gute alte „Abe´s“, seit 1937. Es wird vom Sohn des damaligen Besitzers geleitet, Pat Davis. In jedem Fremdenführer wird es als das älteste Restaurant ganz Mississippis gepriesen. Manche behaupten: Eines der ältesten Restaurants. Es gibt da verschiedene Ansichten.
Ein Blick auf die billige Uhr an seinem Handgelenk, es wird Zeit, er darf nicht trödeln. 6 Minuten bis Mitternacht. Dann ist er am Zielort angekommen. Hier trifft der Highway Sixty-One auf den Forty-Niner. Und genau hier wollte er, Rob, auch hin.
Er nimmt die Kalamazoo vom Rücken, stimmt sie aber nicht. Dann spielt er ein Stück von Nehemiah Curtis „Skip“ James, den 22-20 Blues. Er hat diese besondere Gabe, seit er das Gitarrenspiel erlernte. Hört er einen Song im Radio, kann er ihn auch nachspielen. Nicht ganz exakt, aber doch so, dass der Wiedererkennungswert für jedermann ersichtlich scheint. Skip James war einer der berühmten Delta-Blues-Sänger. Der „22-20 Blues“ schien geeignet für diesen besonderen Anlass. Bruder Nehemiah ist seit etwa 2 Monaten baptistischer Laien- Prediger. Dem Blues hatte er, aus welchen Gründen auch immer, abgeschworen. Doch die wenigen guten Songs lebten in der Gemeinde der Blues-Sänger und -Gitarristen weiter.
Eben war er beim Refrain angekommen, als er Schritte hörte. Ein hoch gewachsener, imponierend starker Mann mit einem Zylinder tauchte urplötzlich auf. Es ist einer dieser unfassbar starken, riesigen Schwarzen, bei denen du sofort denkst: Ich hoffe bloß, der hat heute gute Laune. Robert spielt, offenbar unbeeindruckt, in Wirklichkeit aber extrem nervös (ihm ist, als sei sein Fingerpicking in diesem Augenblick das eines totalen Anfängers, die Filigran-Arbeit mochte einfach nicht gelingen), den 22-20, doch der Riese mit Zylinder nimmt ihm, abrupt, die Gitarre ab. Ohne ein Zeichen, einen Ton, ohne ein Geräusch nimmt der gut 2 m große Mann die Kalamazoo und beginnt, sie sehr sorgfältig zu stimmen.
Er braucht dazu ziemlich lange. Beide sprechen in dieser Zeit kein Wort. Es ist eine drückend schwüle, mit einem lauen Lüftchen, für das beide sehr dankbar sind, durchsetzte Nacht, mitten in Mississippi. Rob betrachtet den Riesen. Er trägt ein weißes Smoking-Hemd mit Plisseefalten, reich bestickt, mit Doppelmanschetten, und einem Wing-Kragen. Darüber ein saloppes Tuxedo Suit Jacket in Schwarz, mit Satin-Kragen. Rob denkt: Wenn einer in der Nobelhütte Eindruck schinden möchte, dann sollte er sich exakt so kleiden. All die Damen werden ihm verfallen sein, und die Herren bieten ihm ihre teuersten Zigarren und den besten Whisky an. Er ist tief beeindruckt.
Weiß geschminkt das Antlitz. Zur tiefschwarzen Hautfarbe ist das ein Kontrast, der zusätzlich für einige Furore sorgt. Auf dem Zylinder sind verschiedene Federn vom Königsfasan, einige kleine Münzen und etliche Tierknochen zu sehen. Es schaudert ihn ein wenig, all das ist fremd und dennoch auch so erwartet worden. Die Augen und die Nase wurden exakt ausgespart, somit verstärkt sich der Eindruck, man habe es hier mit einem Totenschädel zu tun. Der jetzt sehr breit grinst.
„Verzeih, wie unhöflich, ich möchte mich vorstellen“, sagt der beeindruckende Hüne jetzt, und gibt Rob die Gitarre