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Doreen hielt kurz inne und wägte die potentielle Gefahr eines schutzlos über sie herein-brechenden Unwetters gegen die katastrophale Verkehrs- und Parkplatzsituation im Stadtbereich ab. Denn bestimmt war nach den jüngsten Meldungen wieder alle Welt unterwegs für Hamstereinkäufe.
Wenn die Welt untergeht sind Taschenlampen, Heizdecken, Akkuradios und vakuumverpackte Verpflegung sicher von ungeheurem Nutzen, dachte Doreen amüsiert. Vielleicht konnte man den Teufel ja mit einer Stirnlampe blenden. Und falls er sich doch nicht so leicht in die Flucht schlagen ließ, hätte man immerhin noch die Chance, ihn mit der aktuellen Kuschelrock-CD zu besänftigen. Und sofern selbst dieses Geschütz fehl¬schlagen sollte, bliebe einem immerhin noch Plan B: die Notfallration! Die weihnachtlichen Bilder eines leutseligen, beleibten Petrus gaben allerdings berechtigten Anlass zur Hoffnung, den verfressenen Himmelstor Wärter mit ein paar Konservenbüchsen oder einer Tüte Studentenfutter bestechen zu können…
Bei der irrwitzigen Szene, die sich gerade vor ihrem geistigen Auge abspielte, musste Doreen fast lächeln. Allerdings schalt sie sich gleich darauf selbst dafür, dass sie anscheinend nichts, aber auch absolut gar nichts ernst nehmen konnte.
„Wie komisch“, murmelte sie angesichts eines übergroßen Werbeplakates für den neuen Kompaktföhn mit Ionentechnologie. „Trotz der allgemeinen Angst vor Apokalypse, Tod und Teufel bringen noch immer so viele Damen Zeit und Nerven auf, sich von mir die Frisur richten zu lassen…“
Sicher, sie verdiente ihr Geld damit, doch wenn man sie fragte, so setzten diese Kundinnen – angesichts der derzeitigen Umstände! – ihre Prioritäten vollkommen falsch: Einerseits machten sie das drohende Endgericht zum stundenlangen Gesprächsthema, saßen jedoch ganz offensichtlich lieber unter die Trockenhaube, anstatt den wertvollen Rest ihres mutmaßlich zwangs abgekürzten Lebens zu leben!
Aber anscheinend lag ihnen gar nichts daran, all jene
schönen Dinge zu tun, die einen unauslöschlichen Zau¬ber auf die Menschen ausüben: Zeitraubende, „sinnlose“ Aktionen, die im hektischen, leistungsorientierten Alltag stets zu kurz kommen – ohne die das Leben jedoch grau, steril und schlichtweg inhaltslos wäre.
„An die Küste würde ich fahren“, murmelte Doreen, „und einen riesengroßen, bunten Drachen steigen lassen. Bevor es vielleicht zu spät ist.“
Zu spät??? Was dachte sie sich da für einen Unsinn zusammen! Langsam aber sicher schien das Gerede der Leute wohl doch auf sie abzufärben: Endzeitanbruch, Armageddon, Jüngster Tag… Derlei Begriffe garantierten interessante Schlagzeilen – das verkaufte sich eben gut. Sicher, der Mond stand seit kurzem scheinbar tiefer als sonst. Auch trug seine schmutzig grüne Farbe nicht unbedingt zur allgemeinen Beruhigung bei. Und zuge-geben, die Gezeiten waren rund um den Globus ein wenig durcheinander geraten … Trotzdem!
Freilich, sie war bloß eine kleine Friseuse und kein Wissenschaftler. Mit ein wenig Phantasie jedoch konnte sie sich durchaus vorstellen, dass all diese merkwürdigen Phänomene irgendwie miteinander zusammenhingen. Mit Sicherheit gab es früher oder später eine simple Erklärung für die rätselhaften Vorgänge, die man derzeit mangels besseren Wissens einfach so als „Endzeitplagen“ bezeichnete. Solange das öffentliche Leben nicht zum Erliegen gekommen, und der Notstand noch nicht ausgerufen worden war, würde sie jedenfalls leben, jawohl! Und zwar genauso wie bisher.
Allerdings – so befand sie nach einem prüfenden Blick in ihr bescheidenes Portemonnaie – war eine derart schwarz gezeichnete Zukunftsvision, wie sie die Presse erst heute wieder gezeichnet hatte, wenigstens ein guter Grund, sich endlich mal wieder eine Kleinigkeit zu gönnen …
Gerade als Doreen das Kaufhaus an der Langen Straße betreten hatte, verstummte die stimmungsvolle Hintergrundmusik. Es folgte ein kurzes, hässliches Rauschen und gleich darauf die ernste Stimme des Managers: „Sehr verehrte Kunden, aus gegebenem Anlass unter-brechen wir nun kurz für die Übertragung der neusten Nachrichten aus unserem Kreis. Ich bitte dringend um ihre Aufmerksamkeit!“
„…ist es nun erwiesen, dass der Mond seine gewohnte Umlaufbahn verlassen hat und Kurs auf die Erde nimmt. Den Berechnungen eines Teams von Wissenschaftlern in den USA zufolge wird die zunächst befürchtete Kollision jedoch ausbleiben. Neuste Daten haben ergeben, dass der Mond in knapp 13.000 km Entfernung an unserer Atmosphäre vorbeifliegen wird. Es ist dringend anzunehmen, dass unter dem vorübergehend steigenden Einfluss der Mondgravitation die Gezeiten auf unserem Planeten vollständig aus der Kontrolle geraten …“
Das hatte ja gerade noch gefehlt! Doreen verdrehte die Augen und seufzte. Gegen eine Katastrophe dieses Kalibers kam selbst ihre Vorfreude auf ein klein wenig Luxus und Extravaganz nicht an.
„…kann es daher bereits in Kürze zu Flutwellen ungeahnten Ausmaßes, schweren Gewittern und heftigen Stürmen um den gesamten Globus kommen. Aus diesem Grund ist die Bevölkerung weltweit dazu aufgerufen…“, ließ sich die Stimme des Nachrichtensprechers vernehmen.
Sicher würde gleich eine Massenpanik ausbrechen. Sprungbereit und aufs Schlimmste gefasst ließ Doreen ihren Blick über die Umstehenden schweifen, die sich jedoch angesichts der jüngsten Schreckensnachrichten bemerkenswert ruhig verhielten.
Noch bevor sie diesen Umstand hinterfragen konnte, hatten ihre Augen den dunkelhaarigen jungen Mann in der Ecke neben der großen Glasdrehtür gestreift.
Er war nicht gerade das, was man als „gut gestylt“ oder wenigstens als „up-to-date“ bezeichnen würde. Das lag wohl in erster Linie an dem üppigen Haarschopf, der ihm in dunklen Wellen bis zur Schulter reichte. Aber dafür ging von ihm etwas ganz Besonderes aus – etwas, das sie spontan als „charismatisch“ bezeichnen würde. Außerdem, befand Doreen, war er auf seine ureigene, schlichte Weise schön. Wunderschön.
Seine großen, klaren braunen Augen blickten jeden, der an ihm vorüberging, fragend an. Doch allem Anschein nach schien sich keine einzige Menschenseele darum zu scheren. War das vielleicht der Grund, weshalb er ausgerechnet ihren Blick erwiderte?
Unvermittelt schnappte Doreen nach Luft, denn nicht nur ihr Herz, sondern auch ihre Gedanken gerieten plötzlich ins Stolpern. War dieser Mann etwa … Jesus?!
Diese Eingebung schoss scheinbar aus dem Nichts durch ihren Kopf, und noch im selben Moment schalt sie sich eine dumme, überspannte Gans und zwang sich zu einem kontrollierten Gesichtsausdruck.
Aufgewühlt beobachtete sie, wie er sich aus seiner Ecke löste und nun langsam auf sie zukam. Nicht nur seine Haartracht, die solide, schmucklose Kleidung und das einfache Schuhwerk verliehen ihm etwas absolut Außergewöhnliches – nein, es waren in erster Linie sein fester Gang, seine aufrechte Körperhaltung und die sanfte Ausstrahlung seiner feinen Gesichtszüge, die ihn so deutlich von der Masse
Kommentare
Hallo Kilian, es ging darum, eine uralte Schuld wieder gut zu machen, da Lucifer die Menschen betrogen und das Licht einbehalten hat.. Phosphorus kam nun die Aufgabe zu, angesichts des bevorstehenden Unterganges jener kleinen Welt, jenes Miniatur Kosmos, den Menschen die Chance zu geben, ihm, der nun das Licht wahrhaft bringen möchte, zu folgen
Bereits als Kind faszinierte mich die Idee, dass in jedem Wassertropfen eine ganze Welt verborgen sein könnte, vielleicht sogar ein ganzes Miniuniversum und ich wollte eines Tages dringend darüber schreiben. Vielleicht habe ich zu viele Bälle auf einmal in die Luft geworfen und zwei Themen kombiniert, die jedes für sich einen getrennten Platz in einer jeweils eigenen Geschichte verdient hätten.
Danke fürs Lesen und kommentieren.
lG
Anouk
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