Lichtbringer - Page 4

Bild von Anouk Ferez
Bibliothek

Seiten

um dich herum – vom endlosen Schwarz der Nacht ohne Morgen auf ewig verschluckt.“

Worauf basierte ihre Entscheidung? Auf seinen milden, vom Licht geküssten Zügen? Auf der strahlenden Aura, die seine Gestalt wie ein fließendes Cape umgab? Auf dem beruhigenden Klang seiner Stimme? Oder war es am Ende doch eher dem Inhalt seiner Worte zuzuschreiben, dass Doreens Rechte – aller guten Ratschläge ihrer engsten Angehörigen zum Trotz! – das Kontrollzentrum des Gehirnes umging und sich ihm eigenmächtig entgegenstreckte …

Scheinbar im selben Moment fiel der Strom aus und es war nur dem letzten kläglichen Rest Tageslicht zu verdanken, dass das Kaufhaus nicht komplett in undurchdringlichem Dunkel versank. Eine paar Männer liefen ins Freie, um dort verwundert festzustellen, dass scheinbar der gesamte Bezirk betroffen war. Schon zog sich ein schimmelgrüner Streifen über den fleckigen Himmel, und die unheilverkündenden Gewitterwolken, die sich wie gigantische Kohlköpfe in die Höhe erstreckten, warfen unheimliche Schatten durch die moderne Glasfront des Eingangsbereiches. Als die ersten Blitze wie phosphoreszierende Spinnen den Eisschirm der bizarren Wolkengewächse entlang krochen, erhob sich ängstliches Kindergeschrei.
Endlich fuhr Leben in die starre, träge Masse der Herumstehenden: Mütter waren ängstlich darauf bedacht, ihre Kleinen aus der im Dunkel versunkenen Spielzeugabteilung einzusammeln; Teenager versuchen, ihre Nervosität mit dummen Sprüchen, Gekicher und Rangeleien zu überspielen; die Männer hingegen waren in erster Linie um die Aufklärung und Behebung des Stromausfalles bemüht. Zahlreiche Angestellte versammelten sich im Eingangsbereich, um das Aufkeimen eines Tumultes zu verhindern. Hektisch redeten sie auf die Kunden ein, bitte Geduld und Ruhe zu bewahren.
„Geduld wird euch hier nicht weiterbringen“, ergriff Phosphorus schließlich das Wort. „Hört, bisher ist eure Region im Vergleich zu vielen anderen Bereichen der Erde verschont geblieben“, erhob der Engel seine Stimme und sprach somit auch zu all jenen, die nur wenige Minuten zuvor mit einem spöttischen Grinsen an ihm vorbei gelaufen waren. „Doch glaubt mir, nur noch eine Nacht und einen Tag wird eure Welt bestehen. Dann werdet ihr alle, Mensch und Tier, jämmerlich untergehen.“
„Was soll denn Schlimmes geschehen? Wird am Ende gar die Börse einbrechen?“, ätzte ein untersetzter Mittvierziger, der für diesen Zwischenruf verhaltenes Gelächter und vereinzeltes Klatschen erntete.
„Wer seine Augen der Wahrheit öffnen möchte, schließe sich mir an“, fuhr Phosphors unbeirrt fort. „Ich trage das Licht, die geistige Klarheit. Als Fackel des Herrn werde ich Euch den Weg weisen!“
„Bist du Jesus oder Moses oder was?“
„Jungchen, jetzt komm mal runter – es sei denn du hast einen konstruktiven Einfall, wie wir ohne Strom unseren Kram durch die Kasse kriegen“
„Du bist nichts als ein esoterisch angehauchter Grünschnabel, der hier den großen Max markieren will!“
Mit dem Auffrischen des Windes, der in Kürze Orkan-Status erreicht haben würde, wurden die Stimmen der Kritiker lauter und lauter. Immun gegen jegliche Verunglimpfung ergriff Phosphorus vollkommen selbstverständlich Doreens Hand und schritt an der wetternden Menschenmenge vorbei in Richtung Ausgang.
Doreen hätte sich am liebsten angesichts der Spott erfüllten Zurufe beide Ohren zugehalten. Konnte die Erde, wenn sie schon untergehen musste, sich nicht ganz einfach jetzt auftun und sie verschlucken? Das gäbe dem Ganzen fast noch einen romantischen Anstrich…
Kurz bevor sie die große Glastür durchschritten, die im Widerschein der zuckenden Blitze bald in gleißendes Licht getaucht und bald in unheilverkündende, schiefergrüne Dunkelheit gehüllt war, ergriff Phosphorus ein letztes Mal das Wort. Eindringlich sendete er seinen Appell durch die vergiftete Atmosphäre, in der Hoffnung, wenigstens einen zu erreichen, der willens war, sich seinem Wort zu öffnen. „Wer ist unter euch, der dem sicheren Verderben entgehen, und mit uns den Weg hinauf auf den Berg machen will?
„Auf den Berg? Bei dem Unwetter? Sag mal, hast du sie noch alle?“
„Verpiss dich, Moses! Hau ab nach Sinai – aber ohne uns!“
„Frag den Boss mal nach ʾner überarbeiteten Version der zehn Gebote. Und jetzt zieh Leine!“
„Denn sie wissen nicht, was sie tun…“ schoss es Doreen durch den Kopf. Warum konnten diese Leute nicht erkennen, dass er ihnen helfen, ihnen Gutes tun wollte? Warum spürte denn hier keiner, dass dieser Mann ein Gesandter Gottes war?

Aufgewühlte Luftmassen warfen sich Doreen mit der vollen Wucht entfesselter Naturgewalten entgegen. Der Sturm raubte ihr den Atem. Er zerrte an ihrem Körper und riss in ihren Haaren, dass sie vor Furcht und Schmerzen aufschrie.
Erst jetzt wurde ihr bewusst: Phosphorus hatte sie tatsächlich hinausgeführt. Sie – als Einzige!
„Was ist …“, schrie sie verzweifelt gegen das Tosen des Sturmes an, „… mit … all den …anderen?! Und Ma … und Marleen! Wir müssen … einen… Umweg…!“
Der Sturm führte Trümmerteile, Geäst und Dachziegel mit sich, peitschte unentwegt Steinchen und Blattwerk in ihr Gesicht und raubte ihr fast die Sinne.
Donnerdröhnen.
Ohrenzerreißendes Brausen.
Der körperlose Gigant wütete überall.
Schließlich holte der Sturm zum großen Treffer aus und schleuderte seine eiskalte Faust mit der Kraft aller Urgewalten in Doreens Rachen.
Atme! Überlebe!
Abgewürgt.
Meine Beine … so wackelig… :„Phosphorus!“
Schwarz. Grabesschwärze. Das Ende?

Stille.
Nur sein Atem.
Und ein Rhythmus. Sein Herzschlag. So beruhigend.
Licht!
Sie schlug die Augen auf. Ihr Kopf an seiner Brust. Geborgen, unter seinem Cape. Ein mystischer Ort, wo aller Zerstörung Einhalt geboten wurde.
Doreen staunte mit wundergroßen Augen über das sanfte, pulsierende Leuchten, das sich selbst nährte. Jeder Puls glich einem Versprechen.
Sie lebte diesen unglaublichen Moment. Jeder Atemzug war gefüllt mit Ehrfurcht, Dankbarkeit und Zweifel an der eigenen Würdigkeit – und nicht zuletzt mit Trauer angesichts der unglaublichen Tatsache, dass sie (sie ganz allein!) sein Gefolge bildete.
„Ich stand vor jeder Tür, blickte in jeden Geist und las in jedem Herzen.“ Diese Botschaft von ihm empfing Doreen in ihrem Kopf. Seine Worte waren per Licht übertragen, sie stammten aus der Tiefe seines Geistes. Wahrheitshelle Worte, um die höhnende Fratze der Angst und die nagende Sorge um die anderen aus ihr zu vertreiben.
„Wieso rettest du mich?“ fragte sie lautlos in jenen mystischen Bereich hinter ihrer Stirn. „Ich bin nicht sonderlich religiös … nie gewesen … und außerdem bin ich voller Schwächen und Fehler.“
„Selig sind die, die schlichten Gemütes sind“, lautete Phosphorusʾ Botschaft. „Nicht Vernunft und Verstand machen die Schönheit der menschlichen Seele aus, sondern deine Fähigkeit, mit jeder Zelle, jeder Faser zu fühlen. Ich sehe, dass du in allem einen Funken Gutes erspürst: Stehst du vor einem Häufchen Asche, so fühlst du noch die Wärme des Feuers. Und wenn der Himmel seine Schleusen über dir öffnet, so fluchst du nicht, sondern freust dich auf den Regenbogen. Du schätzt das Sein über das Haben. Du lebst, anstatt sklavisch vorzusorgen. Besessenes Horten ist dir zuwider, du behütest, ehrst und bewahrst die Dinge. Du warst die Einzige unter all jenen, denen ich auf meiner Reise begegnet bin, die sich dem Licht geöffnet hat. Dein sei daher das Himmelreich! Wer jedoch das Licht verschmäht und im Dunkel steht, der wird auf ewig verloren sein …“

Da standen sie schließlich, Hand in Hand, auf dem Gipfel des Bungsbergs. Fassungslos starrte Doreen in den Himmel: Anstelle des kornblumenblauen Zeltes aus Kindertagen, das sich schützend über Mutter Erde spannte, lauerte ihrer nun ein zügelloser Dämon mit gewaltigen, zum Schlag ausgeholten Pranken. Die schaurige Grimasse des Mondes hob sich knall orange vor den graugrünen Sturmwalzen am Horizont ab.
War dies das Ende?, fragte sie sich. Schluss? Aus? Vorbei?! Würden gleich die sieben Siegel brechen und die apokalyptischen Reiter hoch über ihren Köpfen all die schaurigen Prophezeiungen erfüllen? Niemand hatte ihr je gesagt, was am Ende aller Zeit von ihr erwartet würde. Sollte sie Buße tun? Beten? Sich die Haare raufen? Still sein und in sich gehen? Würde gleich, im Angesicht des Todes, ihr ganzes Leben in umgekehrter Reihenfolge vor ihr abgespielt werden?
„Sei ohne Furcht.“ Der Engel legte Doreens Hand auf sein Herz, jene pulsierende, leuchtende Region, die nackte Angst in Zuversicht und nagenden Zweifel in Vertrauen verwandelte.
Dies war nicht das Ende, sie konnte es fühlen. Es war vielmehr der Beginn einer großen Reise mit unbekanntem Ziel. Doreens Herzschlag läutete den Aufbruch ein. „Ich bin bereit.“
Der Himmel zerriss: ein klaffender Spalt, ein Blick ins Nichts. Blankes Entsetzen am Fuß des Berges, von wo Schreie aus tausenderlei Kehlen zu ihnen herauf drangen. Nachtschwärze schoss wie ein Galgenvogel auf die verzweifelte Menschenmasse nieder und mitten in diesem Chaos zuckten schwefelgelbe Blitze wie die Ausgeburten eines Seelen fressenden Teufels.
Gebannt beobachtete Doreen die gewaltige Windhose am Horizont, die in rasendem Tempo auf den Berg zuraste. Der Wirbelsturm machte jedoch nur den Anfang. Er war nichts weiter als der zerstörerische Atem eines hungrigen Höllentieres. Die eigentliche Katastrophe stand noch bevor. Denn hinter dieser Luftwalze, die Schutt, Geäst, Räder und sogar Autos mit sich riss, lag ein riesengroßes Ding von unendlicher Schwärze. Gierig beanspruchte es von Sekunde zu Sekunde mehr Raum. Jetzt verschluckte es ihren Blick, doch gleich würde es den gesamten Erdball verschlingen.

„Ich bin der Lichtbringer“, rief Phosphorus gegen den Sturm, der sich der Macht seiner Stimme zu beugen schien. Doreen, die angesichts der schier ausweglosen Situation bis zuletzt auf Rettung durch göttliches Zutun gehofft hatte, beobachtete nun mit einer verwirrenden Mischung aus blankem Erstaunen und Glaubensbestätigung, wie der gewaltige Luftwirbel plötzlich aufklaffte und sie beide sicher umschloss.
„Sprich ein Gebet“, vernahm sie die Stimme des Engels. „Öffne dich der Wahrheit, dem Licht, dem allmächtigen Gott – und spring!“
Von einer Macht die höher war, als jene ungezügelten Naturgewalten, wurden sie empor getragen, höher und höher.
Während tief zu ihren Füßen Verwüstung, Zerstörung und Untergang ihr schauriges Werk verrichteten, entgingen sie auf wundersame Weise jeder Gefahr, die ihnen auf ihrer unglaublichen Reise ins Weltall auflauerte.
„Die Welt, wie du sie kanntest, findet in wenigen Sekunden ihr Ende“, empfing Doreen die Botschaft des Engels durch die dimensionslose Unendlichkeit. „Blicke ein letztes Mal zurück und werde sehend!“

Der Regen, der an diesem goldenen Herbsttag vollkommen unvermutet eingesetzt hatte, prasselte sintflutartig herab. Die riesige schwarze Regentonne, die am äußeren Rand des ziegelroten Schleppdaches stand, war bereits randvoll.
„Dass du mir bloß niemals kopfüber dort hinein fällst“, mahnte die Mutter, während sie fluchend die Wäsche vom umgestürzten Ständer raffte. „Vor vielen Jahren ist ein Junge aus dem Dorf jämmerlich auf dem Grundstück seiner Eltern ertrunken. Er hat nämlich – wie du gerade! – an so einer Tonne herumgeturnt. Weißt du eigentlich, wie gefährlich das ist?! Ruck-zuck verliert man den Halt! Und dann kann man nur noch panisch mit den Füßen zappeln und…“
„Stell dir mal vor, Mama“, rief der regennasse Knirps im Ostfriesen Nerz mit vor Aufregung heller Stimme, „in jedem Regentropfen wäre eine klitzekleine Welt!“ Gebannt beobachtete er die Ringe auf der Wasseroberfläche. „So wie unsere eigene Welt, nur halt viel, viel kleiner…“
„Was du wieder für verquere Gedanken hast!“, seufzte die Mutter und klemmte sich mit düsterer Miene die tropfnasse Wäsche unter den Arm. „Ich finde es unverantwortlich, was für absonderliche Ideen sie euch Dreikäsehochs im Kindergarten in den Kopf setzen!“

Doreen war frei. Unendlich frei. Ihr einstiger Körper war ein leuchtendes Energiegeflecht, das durch die Kraft ihrer Gedanken und Emotionen genährt wurde.
Losgelöst von allem Irdischen und dem bitteren Los des Unterganges sank sie an Phosphorusʾ Seite in einen Stand-by-Modus. Bis eines Tages, in ferner Zukunft, die Elemente sich durch himmlische Fügung neu ordnen und eine lebensfreundliche Atmosphäre schaffen würden …

Unterdessen stürzte der Erdball mit rasender Geschwindigkeit in den mit Ursuppe gefüllten schwarzen Trichter, dem Massenvernichtungswerkzeug jener höheren, riesenhaften Spezies.
Dort ging er im Bruchteil einer Sekunde zusammen mit Millionen anderer Welten in Auflösung über. Doreen und der Engel jedoch träumten von ihrer sicheren Warte aus von Gottes großem Geschenk: Einer frischen, verheißungsvollen, jungen Welt, die sie eines Tages bevölkern und bewirtschaften würden …
Alpha und Omega.

Seiten

Prosa von Anouk Ferez

Interne Verweise

Kommentare

04. Apr 2017

Hallo Kilian, es ging darum, eine uralte Schuld wieder gut zu machen, da Lucifer die Menschen betrogen und das Licht einbehalten hat.. Phosphorus kam nun die Aufgabe zu, angesichts des bevorstehenden Unterganges jener kleinen Welt, jenes Miniatur Kosmos, den Menschen die Chance zu geben, ihm, der nun das Licht wahrhaft bringen möchte, zu folgen

Bereits als Kind faszinierte mich die Idee, dass in jedem Wassertropfen eine ganze Welt verborgen sein könnte, vielleicht sogar ein ganzes Miniuniversum und ich wollte eines Tages dringend darüber schreiben. Vielleicht habe ich zu viele Bälle auf einmal in die Luft geworfen und zwei Themen kombiniert, die jedes für sich einen getrennten Platz in einer jeweils eigenen Geschichte verdient hätten.
Danke fürs Lesen und kommentieren.

lG
Anouk

Seiten