Was sehe ich vom höchsten Turm der Welt aus?

Bild zeigt Alf Glocker
von Alf Glocker

Alles oder nichts! Unten, an seiner Pforte, ist ein Schild. Drauf steht: „Betreten strengstens verboten!“ Gerade aus diesem Grund öffne ich die nicht abgesperrte Türe und erhalte dabei einen Stromschlag! Verdammter Mist!

Die Treppen – gewendelt – sind glitschig und daher abweisend. Von ganz, ganz oben scheint jedoch ein winziger Lichtstrahl in den Schacht zu dringen. Ich blicke hinein und staune, denn, obgleich das Licht sehr fahl ist, bin ich sofort geblendet.

Als ich ein paar Stufen erklommen habe, höre ich Stimmen von draußen. „Da ist jemand reingegangen“, sagt einer und ein anderer meint: „Wenn der wieder rauskommt, verprügeln wir ihn!“ Die Angst davor treibt mich weitere Stufen nach oben.

Doch gleich wird es unerwartet ernst. Es flackert überall in diesem himmelwärts führenden Tunnel, der von Zeit zu Zeit kleine Durchblicke für mich öffnet. Je höher ich steige, desto mehr verändert sich die Realität!

Schon jetzt, auf halber Höhe, meine ich niemanden mehr verstehen zu können … denn die Stimmen von draußen sind kurioserweise nicht leiser geworden. Sie sind laut, scheinen aber in einem fürchterlichen Dialekt gesprochen zu sein.

„Was für ein Kauderwelsch“, denke ich bei mir und „ein Wunder, daß sie sich gegenseitig verstehen und noch dazu den Blödsinn glauben, den sie sich verzapfen – wenn das Geschwätz überhaupt einen Inhalt hat."

Ich ahne ganz deutlich, um was da geht: um die Verschleierung von Tatsachen, denn hin und wieder kann ich ein paar Wortfetzen verstehen. Immer wieder werden Worte wie „darf man doch nicht“, oder „wieso sagt das wer?!“ gesprochen.

Als ich noch höher komme, wird mir beim Ausblick auf die tief unten liegende Stadt und die sie umgebende Landschaft schwindlig. Ich muss schon sehr hoch sein, denn ich lebe in einer Millionenmetropole und trotzdem ist das Land drumherum deutlich auszumachen.

Bald müsste ich doch eine Aussichtsplattform erreichen. Aber es ist keine in Sicht. Ich steige und steige … Lieder wird mir der Aufstieg jetzt noch durch ein Phänomen erschwert, das mich wohl unsanft von meinem Vorhaben, mehr sehen zu wollen, abbringen möchte.

Wie Peitschenschläge knallen mir Schlussfolgerungen ins Gesicht, die sich irgendwie ganz von selbst ergeben, ohne mich vorher gefragt zu haben. Ich muss nun über 3000 Meter hoch sein und ich spüre die dünne Luft.

Aber in gleichem Maß wie die Luft dünner wird, wird mein Kopf leichter und die Sicht, sowohl durch die Ausblicke, wie auch durch die Einblicke in ein Sein voller Widersprüche weiter und logisch erklärbarer. In endlos weiter Ferne sehe ich eine Gebirgskette unter mir.

Es muss der Himalaya sein. Ich sehe seine Spitzen von oben. In 10 km Höhe beginne ich zu fabulieren! „Wenn 1 + 1 2 ist, dann darf das doch nicht abgestritten werden – weder in der Mathematik, noch in der Politik, noch bei jedem anderen Denkvorgang."

Gleichzeitig wird mir klar, daß es von mir blasphemisch ist anzunehmen, ich dürfte dieses Beispiel auf alles anwenden, was es gibt. Ich fühle den Schmerz, den logisches Denken bei Leuten verursachen kann, die sich lieber in ihrer heiligen Einfalt sonnen.

Und da kommt sie auch schon – die Sonne. Ich stehe plötzlich, in 20 km Höhe, auf einer Art Wolke. Die ganze Erde liegt mir zu Füßen! Meine Sicht ist so unwiderlegbar deutlich auf das Leben dort unten gerichtet, daß ich jede Kleinigkeit erkennen kann.

Deshalb sehe ich natürlich auch, was die Menschen, am Fuß des Turmes, gerade für mich aufstellen. Es handelt sich um ein Gerüst aus Holz, an dessen Füßen meine Notizen brennen. Sein Kopfteil bildet ein Querbalken mit einer Schlinge dran …

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