Leseprobe aus dem Roman "Überall ist das Haus des Windes"
Auszug aus dem Kapitel "Tage unseres Lebens"
Nader rührte den Tee nicht an, er starrte auf die Tischplatte vor sich und grübelte angespannt über sein Leben nach. Ob er wirklich fliehen sollte, fragte er sich und verwarf den Gedanken sogleich. Er war bereit zur Flucht. Er dachte an nichts anderes mehr. Er drehte einen Zuckerwürfel zwischen den Fingern, dann zerkrümelte er ihn langsam über dem Teeglas. Es gelang ihm nicht, sich auch nur einen Tag in der Fremde vorzustellen, in die er flüchten wollte. Ich werde alles Vertraute verlieren, begriff er. Hier bin ich aufgewachsen, ich kenne nicht viele Ort, dachte er. Eine tiefe Unruhe erfasste ihn, seine Augen brannten und seine Kehle war wie zugeschnürt, ein Gefühl des Verlustes stieg in ihm auf. Er blickte sich um im Raum, die Männer waren wie immer, er sah durch die Männer hindurch, er gehörte schon nicht mehr dazu. In seine Betrachtungen vertieft, griff er nach einem Stück Zucker, das hell vor ihm aufleuchtete, er befand sich an einem hellen Rand, das war seine letzte Gewissheit. Ich werde alles hinter mir lassen, ein neues Leben beginnen, dachte er verwundert, nur Allah allein kennt mein Schicksal. Auf einmal fühlte er sich leicht, er schien zu schweben, es war eine gefährliche Stimmung. Er knackte das Zuckerstückchen, es knirschte zwischen den Zähnen. Nader wurde schläfrig, er döste vor sich hin. Bilder kamen ihm in den Sinn, flimmerten kurz vor ihm auf. Er erinnerte sich an einen Film an jenem Abend in Khosros Haus, als alle Nachbarn sich versammelten. Es musste Mitte der Siebziger Jahre gewesen sein. Was er dort sah, war eine ihm völlig fremde Welt, die ihn auf unerklärliche Weise lockte.
Die Neuigkeit machte die Runde im Dorf. Sie drehte sich um die magische Box. Leute bogen von überall her in die schmale Gasse und versammelten sich vor Khosros Haus. Mit gesenktem Kopf traten die Frauen ein und grüßten die Männer zuerst. Ein paar Jungen breiteten eilig Teppiche auf den Boden aus. Die Leute setzten sich abwartend. Khosro wies einen jungen Mann an, die schwere Autobatterie in die Ecke des Gartens zu stellen, dann schloss er das Kabel des Schwarzweiß-Fernsehers an die Batterie an.
Was war das doch für eine erstaunliche Zeit! Noch gab es keinen Strom im Dorf, doch im Haus von Khosros Bruder Abdol Khan stand nun ein Fernseher. Ein lautes Geräusch war zu hören und gleich darauf schrie Khosro ein paar junge Männer an, sie sollten weggehen, einem Jungen befahl er, ein Paket aus dem Jeep zu holen. Der Junge beeilte sich und Khosro packte die Antenne und die Drähte aus. Der Garten füllte sich mit Besuchern. Einige Nachbarn schlürften Tee. In der Nähe des Samowars stand Nana Bibi, die Schwester von Abdol Khans Vater, und warf hin und wieder einen Blick durch den Garten, während sie unentwegt Gebete murmelte und die kleinen Teegläser auf dem Messingtablett zurechtrückte. Ihren Körper verhüllte ein graugeblümter Tschador. An ihren wirklichen Namen erinnerte sich kaum noch jemand. Nana bedeutet Großmutter und Bibi Tante. Jeder rief sie nur Nana Bibi. Ein paar der Kinder rannten herum, die anderen hockten in der Nähe des Eingangstores. Afsoon und Setareh spielten miteinander. Es war ein großer Abend und alle waren vergnügt. Bald würden sie eine Fernsehsendung erleben. Jemand hustete, ein anderer schluckte vernehmlich. Irgendwer flüsterte und verbarg ein Kichern in den Händen. Zwei Mädchen unterhielten sich angeregt über ihre geknüpften Teppiche und verglichen sie miteinander. Nader und Yaavar schlichen um Khosro herum und verfolgten jede seiner Bewegungen. Im Schatten der Lehmmauer verborgen saß ein junger Mann und starrte verstohlen zur Ecke des Gartens, wo eine Frau ihr Baby stillte, unruhig kaute er an den Nägeln.
Khosro war so beschäftigt mit der Installation der Antenne auf dem Flachdach, als ginge ihn das alles nichts an, das Raunen und Gemurmel, die gespannte Erwartung, dieser Abend, das Fernsehprogramm, als würde er durch alle hindurch sehen und den Abendhimmel mustern, der sich langsam verdunkelte zwischen den silbrigen Stäben der Antenne. Dabei war auch er aufgeregt und klammerte sich an der Antenne fest, um nicht umzufallen, denn alle Augenpaare waren abwechselnd auf ihn und das Fernsehgerät gerichtet. Innerlich bebte er vor Stolz.
Die Minuten verstrichen, die Leute vor dem Fernseher schwiegen und guckten Löcher in die Luft. Eine Frau direkt vor dem Fernseher bereitete einen Platz für die alte Nana Bibi vor, sie setzte sich, in ihren Händen hielt sie einen schwarzen Rosenkranz, er war heilig. Einige Jahre zuvor war sie zu einem Wallfahrtsort gepilgert. Schwarz verhüllt wie die anderen Frauen betrat sie den Innenhof der Moschee. Es herrschte ein großes Gedränge, sie wurde weiter geschoben zum Eingang des Grabmals, im Innenraum schützte ein schweres, kunstvoll mit Gold verziertes Zarih, ein eisernes Gitter, das Grabmal eines Imam. Die Menschen drängten zum Gitter vor, berührten es ergriffen, bedeckten es mit Küssen, beteten inständig, manche hatten Tränen in den Augen, viele Schiiten rieben ihre Ringe, Gebetsketten und Taschentücher am Zarih, luden ihre persönlichen Gegenstände mit dem heiligen Schutz auf. Auch Nana Bibi hatte ihren Rosenkranz am Zarih gerieben, fromm drehte sie die Perlen des Rosenkranzes und murmelte Gebete über jeder einzelnen Perle.
Nader schloss die Augen vor Aufregung, und Khosro ging auf den Fernseher zu und schaltete ihn an. Ein graues Flimmern setzte ein gefolgt von einem dichten Schneetreiben, der Schnee wurde flockiger, schwarze Blitze zuckten über den Schirm, das Bild rannte in Streifen wie ein schwach fließender Bach. Ein schwarzweißes Bild flammte auf. Das Gemurmel erstarb, das Grinsen verschwand, alle sahen hin. Khosro drehte am Ton. Ein kosmisches Hintergrundrauschen erfüllte den Garten. Der Fernseher lief – und alles verlangsamte sich, der Himmel über dem Grundstück hielt den Atem an, alle hielten einen Moment den Atem an. Das Blut in den Adern floss langsamer.
Nader öffnete die Augen, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Das Gesicht eines Mannes erschien auf dem Bildschirm und er setzte sich hin, Yaavar stand neben ihm. Die Stimme des Nachrichtensprechers klang hell und samtig, und so deutlich, als wäre er unter ihnen im Garten. Sogleich verhüllte Nana Bibi ordentlich ihr Gesicht mit dem Tschador. „Naa mahram“, rief sie erschrocken, „das ist haraam, er kann mein Gesicht und meine Haare sehen!“ Nur Ehemännern, Vätern, Brüdern und Söhnen war es erlaubt, Gesicht und Haare ihrer Ehefrauen, Töchter und Schwestern zu sehen. Der Mann verschwand plötzlich, wohin wusste keiner, eine gewaltige Flutwelle rollte heran, einige Leute vor dem Fernsehapparat sprangen auf und rannten schreiend weg im Angesicht der See.
So also fing es an.
Dann brach der Jubel los, Tumult entstand. Inzwischen war der Garten schon überfüllt mit Nachbarn und ihre lauten erregten Stimmen beherrschten die Umgebung. Niemand konnte die Stimme des Fernsehsprechers hören. Von hinten schrie jemand die Leute vor dem Fernseher an: „Setzt euch, wir können nichts sehen!“
Ein Junge in schmutzigen Kleidern fuchtelte mit einem Stock in der Hand herum und brüllte die Kinder an: „Seid still!“ Sie hörten nicht auf ihn. Sie rauften, kniffen einander und riefen freche Worte. Viele Augenpaare verfolgten gespannt die wechselnden Szenen auf dem Bildschirm, kommentierten und erklärten sie laut den anderen. Die Älteren vergaßen auf die Kinder Acht zu geben, nur wenige verstanden die Bedeutung der Dialoge.
Auf dem Pfad vor der Lehmmauer saß ein alter Mann und schüttete etwas Tabak auf ein kleines Papierstück und feuchtete es mit seinen rissigen dunklen Lippen an. Ruhig beobachtete er den Sonnenuntergang. Er saugte sich mit seinen Augen am Horizont fest, sog die Ferne heran, las im Himmel seine Erinnerungen wie in einem Buch. Vielleicht hielt er Ausschau nach Gott. Er sprach nicht von Gott, der Himmel und die letzten Strahlen der Sonne waren ihm Gewissheit genug. Er machte sich so seine Gedanken. Doch für ihn brachte dieser Tag keinen Unterschied, es war ein Sonnenuntergang wie immer. Ein paar dürre Ziegen liefen träge vorbei. Eine pisste und reckte den Kopf nach einem Fetzen Papier, schnüffelte daran, als wäre er ein letztes Mahl vor der Nacht im Stall. Der Stock des kleinen Hirten trieb die Ziege weiter. Der alte Mann schaute in die Tiefe der Wüste, in die letzten Sonnenstrahlen. Bald würde der Nachthimmel auf diesen Ort fallen. Er lauschte dem Geräusch des Dunkelns, das gegen den Boden drückte. Dunkelheit und Licht, seine stillen Träume breiteten sich in ihm aus wie ein weiter See, und am Ufer wartete schon ein Kahn, wusste er.
Nader stieß gegen das schmale Glas vor ihm, Tee schwappte über den Rand, seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als eine Hand nach seiner Schulter fasste, Yaavar, der Freund, setzte sich zu ihm. Er sah müde aus und rückte an seinem leicht verschwitzten Hemdkragen, strich über seine verknitterte Jacke, die angestaubt war, er kam von seiner letzten Tour, den Lastwagen hatte er auf dem Vorplatz abgestellt. Nader schreckte aus seinen Tagträumen auf und gähnte. Schnell rührte er den Tee um, der längst kalt geworden war, und trank einen Schluck.
„Wo bist du mit deinen Gedanken?“, fragte ihn Yaavar. Nader seufzte bloß und versuchte daran zu denken, wie er ihm seine Lage erklären sollte. Aber das einzige, was ihm einfiel, war Setarehs weiches Kindergesicht an jenem Fernsehabend, es verschmolz mit ihren lieblichen Zügen und der Wärme, mit der sie ihn gestern Abend bei der Hochzeitsfeier angeblickt hatte. Wehmut überkam ihn. Er vermisste sie jetzt schon und schlug die Augen nieder. „Ach nichts, ich musste nur an den Abend denken, als Khosro den Fernseher anschloss und wir diese amerikanische Familienserie sahen, erinnerst du dich? Wie das war, damals?“ Verständnislos schüttelte Yaavar den Kopf und bestellte eine Aab goosht, eine kräftige Suppe aus Fleisch, Erbsen, Kartoffeln und Tomaten, doch etwas am Klang von Naders Stimme ließ ihn aufhorchen, und er dachte nach, dann erinnerte auch er sich.
Nader wurde nun sichtlich nervös, mit beiden Händen umfasste er das Teeglas und stierte hinein. Jetzt musste er ihm von seinen Fluchtplänen erzählen. Yaavar kannte bestimmt einen Weg, ihn aus dem Land zu bringen. Qaffaar brachte die Suppe, hungrig begann Yaavar zu löffeln. Leise begann Nader, stockend und zögerlich redete er über Nebensächliches, holte weit aus, er schluckte mehrmals, bevor er weiter sprach, dann redete er schneller, er ließ nichts aus, erzählte von seiner Ausweglosigkeit. Yaavar hörte mit aufgerissenen Augen zu, hielt den Löffel starr in der Hand.
„Ich will über die Grenze, ich muss weg von hier, du musst mir helfen“, endete er atemlos, seine Stimme hatte einen heiseren Klang angenommen. Er sah Yaavar direkt in die Augen. Yaavar musterte ihn stumm eine Weile. Dann aß er schweigsam seine abgekühlte Suppe auf. Sie sahen sich nicht an. Nader blickte durch das Fenster, sah wie die Tauben auf dem Vorplatz nach Resten pickten und die Spatzen auf der Lehmmauer saßen. Unaufhörlich wurde die Tür geöffnet und wieder geschlossen oder blieb wie eine Einladung offen angelehnt. Der Wind wehte starken Fischgeruch vom nahen Basar durch die schmale schattige Straße mit ihren vergänglichen Gerüchen. Yaavar schob den Teller beiseite, er warf zwei Stückchen Zucker in den Tee und rührte langsam um. Er stöhnte und nahm noch ein Stück Zucker, legte es dann wieder weg und sagte...
Copyright: 2016, Monika Jarju (Berlin) und Ali Amini (Iran)