Noch nicht ganz wach begeben sich meine Gedanken auf eine ungewöhnliche Reise. Eine dunkelgraugrüne Riesenwelle sehe ich vor mir, eine schwarze Wand aus Wasser und Luft, sie hat Steinbrocken, Holzplanken, ganze Häuser, Schiffe, Menschen, Tiere verschlungen und hoch gehoben, gleich wird sie ihre Last auf den Strand klatschen und mit ihrer Kraft zermalmen, nur, um sich zurück zu ziehen und dem nächsten Riesenbiest Raum zu geben. Solche Bilder haben sich mir wahrscheinlich vor fünf Jahren während der Flut- und Atomkatastrophe in Fukushima eingeprägt. Sie ist in meinen Klartraum gekommen, diese Riesenwelle, bedroht mich, ich bin so winzig dagegen, eine Ameise, haushoch türmt sie sich vor mir über mir auf, ihre weißen Schaumkronen zischen wild tanzend, gleich hab ich dich, du entkommst mir nicht. Ich darf mich nicht vor ihr fürchten, sonst bin ich verloren. Weiß, was ich tun muss, Augen zu und ohne zu denken mutig drunter durch tauchen und hoffen, dass sie mich nicht ergreift.
Das Bild von einer Riesenwelle bleibt bei mir, ich übertrage es auf eine andere vorgestellte und auf ihre Weise genau so gefährliche Welle, die aus falschen hassgeladenen Wörtern besteht, sie schwappt über die Kanäle der von Millionen Menschen genutzten sozial genannten Medien nicht nur in unser Land. Sie bringt Freundschaften und Familien auseinander, spaltet Nationen, beeinflusst Wahlkämpfe, hievt politisch unerfahrene ungebildete Quereinsteiger mit zweifelhafter Moral in höchste Staatsämter. Auch ich fühle mich von ihr bedroht. Drunter durch tauchen mit geschlossenen Augen hilft nicht. Ich kann darüber reden, bin aber alleine zu schwach, um zu handeln. Wir müssen uns ihr gemeinsam mit weit geöffneten Augen und Ohren entgegen stellen, bevor es zu spät ist. Bevor der Strom des Hasses, der Egoismen so stark geworden ist, dass er nicht mehr aufzuhalten ist und uns überrollt. Diese Monsterwelle kann Völker spalten, den Verlust des Friedens und des Wohlstandes nach sich ziehen und die Idee eines Europas der offenen Grenzen mit gemeinsamer Währung zerstören. Selbst eine Art Krieg ist vorstellbar, es könnte einer von neuer Dimension sein. Er wird nicht mit herkömmlichen Waffen geführt, wird nicht erklärt, er passiert, ferngesteuert von wem auch immer. Hackerangriffe durch feindliche Programmierer können Kraftwerke kapern, deren Computer Programme mit schädlicher Software infizieren und längerfristig abschalten, so vor kurzem in der Westukraine geschehen. Blackout ist die Folge. Die Straßen sind dunkel, U-Bahnen, Fahrstühle bleiben stecken, Telefone funktionieren nicht mehr. Auf den Monitoren in den Kraftwerks-Lagezentren blinkt Code Red: Das Netz ist tot. Die Bankautomaten spucken kein Geld mehr aus, unserer Computer fallen aus, die Handys können nicht mehr aufgeladen werden, die Lebensmittel werden wegen der fehlenden Kommunikation nicht mehr transportiert, die Tankstellen können keinen Sprit mehr abgeben, die Ärzte verfügen nicht mehr über die Patientenakten, die Medikamente werden knapp, das Trinkwasser kann nicht mehr in die Leitungen gepumpt werden, und wir haben keine Vorräte angelegt, kein Wasser, keine Kerzen und Streichhölzer. Wir haben in unseren so gut gedämmten Häusern keine Kamine mehr, können keine Öfen anschließen. Wir wären nicht darauf vorbereitet. Panik könnte ausbrechen. Für diesen Fall müsste die Regierung einen Evakuierungsplan parat haben. Hat sie das, kann er funktionieren?
Zu der Horrorvision, in die ich mich da hinein gesteigert habe, fallen mir Verse aus der Offenbarung des Johannes Kapitel 13 ein: Und ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte zehn Hörner und sieben Häupter und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern lästerliche Namen. Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Panther und seine Füße wie Bärenfüße und sein Rachen wie ein Löwenrachen. Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Thron und große Macht. Und ich sah eines seiner Häupter, als wäre es tödlich verwundet, und seine tödliche Wunde wurde heil. Und die ganze Erde wunderte sich über das Tier, und sie beteten den Drachen an, weil er dem Tier die Macht gab, und beteten das Tier an und sprachen: Wer ist dem Tier gleich und wer kann mit ihm kämpfen? Das ist ein starker Text, den ich nicht verstehe, aber vielleicht grade deshalb an dieser Stelle passend finde. Sich dem Tier nicht beugen, sollte die Devise für uns alle sein, dagegen an kämpfen mit Worten und Taten. Gemeinsam sind wir stärker als dieses Monstrum. Diese halbgaren und doch nicht ganz zu verwerfenden Gedanken haben mich aus meinem leicht schläfrigen Zustand gerissen und aufgeschreckt.
Jetzt suche ich, was mich ruhig macht, mir die die Angst vor der Veränderung nimmt, die unaufhaltsam zu sein scheint. Einfach hinsetzen hilft. Lärmquellen ausschalten, Augen schließen, tief atmen und den Gedankenfluss verlangsamen. Zu mir selbst finden. Nichts erwarten. Sie kommt von selbst, die Stille, und heilt mich. Das hoffe ich, mehr ist es nicht. Und auch nicht weniger.
Halbschlafgedanken
von Marie Mehrfeld
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