Maria - ein Märchen für Dich - Page 2

Bild von Monika Laakes
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ließ ein dürres Gerippe für kommende Zeit zurück. Das hatte die Kraft gefressen, und das hatte die Schönheit gefressen, und es fraß und fraß und mochte den Glanz der Erde verschlingen.
Da schloss Maria eine Lücke von gestern nach morgen, und sie vergaß all ihre Arbeit und dachte an versäumte Möglichkeiten. Der Wind trug geheimnisvolle Düfte durchs Land, Düfte von Jasmin, Tulpen, Wicken und Frühlingsboten aller Art, und der Gesang von neuem Leben wollte nicht verstummen.
Da bat Maria: "Bitte trag mich wie damals, als die Erde unter uns dahinflog und der Himmel nah und näher kam", denn sie wollte Leben spüren, zerfließen, nochmal dabei sein.
Das Pferd nahm Maria auf seinen mageren Rücken. Der Trab war hart. Beim Galopp unterbrach die Verbindung, und Maria riss sich beim Sturz die Hände blutig. Und die Erde drehte sich weiter, und die Zeit blieb nicht stehen.
Das Pferd stürmte davon, als könnte es seine Kraft und Schönheit in der fernen Freiheit wiedererlangen. Sein Leib glänzte im Schein der untergehenden Sonne. Und weit, weit am Horizont verband sich sein Körper mit der Dunkelheit.
Salzig ist das Wasser des Meeres. Der Geschmack auf den Lippen, das immer währende Flüstern, Rauschen, Dröhnen des Meeres. Marias Tränen waren salzig, das Flüstern, Rauschen und Dröhnen in ihrem Kopf währte so lange, bis das Bild des Pferdes zerfloss und mit ihm der Kummer.
"Ich werde weiterziehen", sagte sie, und wieder hörte sie in sich die geheimnisvolle Stimme, die sie vorantrieb, sie peitschte, nur weiter, nur weiter.
So kletterte sie über Felsen, mühsam, rutschte ab, scheuerte sich die Knie auf, zog sich ächzend hoch und kam endlich auf einem mageren aber festen Boden zu stehen. Das Tal zog sich karg und schlauchförmig zwischen den Felsen dahin. Stunden reihten sich aneinander, und die trockene Hitze machte durstig.
Auch in der hintersten Ecke dieser Erde, wo sich Häuser an Felsen schmiegen, wo alte Frauen mit schwarzen Kopftüchern und schwarzen langen Kleidern die Dürre der Landschaft in ihren Gesichtern tragen, findet sich jemand, der nach dem Woher und dem Wohin fragt, lächelt und ein Glas Wasser reicht.
Als Maria, erst gierig, sich verschluckend, dann bedächtig und dankbar das Wasser die Kehle hinunterrinnen ließ, hörte sie von fem den Gesang des Meeres, ein Anschwellen und ein Abschwellen mit dem Wind.
"Hör nur, wie es ruft. Es ruft seit Jahrmillionen. Es wurde geliebt, es wurde gehasst, es gab Nahrung und es brachte den Tod."
Maria murmelte leise, beschwörend, reichte der alten Frau den Becher zurück und ließ das Dorf und die freundlichen Bewohner hinter sich. In der siebenten Stunde zerrte der Wind an ihrer Bluse, ließ Hosenbeine flattem, riss Strähnen aus ihrem Zopf, und das Meer rollte mit mächtigem Dröhnen auf den Strand zu. Erschöpft sank sie in den unberührten Sand, und ihr Auge fand in der Feme keinen Halt, denn das Meer ging nahtlos in den Himrnel über. Da ließ sie den feinen Sand durch ihre Finger rinnen, und er machte kleine Türmchen auf ihren Schenkeln, und all die Türmchen stellten die Frage:
"Wohin?"
Da. Plötzlich aus der Tiefe des Meeres eine Stimme: "Maria. Ich habe auf Dich gewartet. Endlich, endlich hast Du mich gefunden."
Sie blickte erstaunt um sich, doch der Strand lag still, nur im Sand hin und wieder die Spur eines Krebses oder Käfers.
"Maria! Hier bin ich," drängte die Stimme.
Ein Fisch von der Größe eines hünenhaften Mannes stand hoch aufgerichtet auf dem Wasser. Seine Schwanzflosse bewegte sich blitzschnell hin und her. Dann krümmte er seinen Leib, stieß sich mit der Flosse ab und flog meterweit. Wie es spritzte und zischte, als der große Körper im Wasser verschwand.
"Komm zu mir", bettelte er. Ruhig und eindringlich "komm".
Da war wieder dieses Etwas, dieses namenlose unruhige Ding. Maria stürzte ins Wasser, und der Fisch glitt sanft an ihr vorüber. Sie ließ sich treiben und schnellte in seinem Sog dahin.
"Hörst Du's ?" flüsterten die Wellen.
"Siehst Du”s ?" schossen die Sonnenstrahlen ihre Pfeile übers Wasser.
"Fühlst Du's ?" signalisierte der Körper des Fisches und rieb sich an ihrer Haut.
"Hast Du's ?" schrie es in ihr und "Ich hab's! Ich hab's!"
So kam wieder dieses Eine, dieses Maßlose. Maria verband sich mit dem Fisch und war Fisch. Und die Welt floss in sie ein. Auf den Wellen der Meere glitt sie dahin, und sie erhob sich mit dem Wasserdampf, und sie war in den ewigen Kreislauf eingewoben.
Wie mag man diesen Zustand der Auflösung nennen? Ekstase? Rausch? Oder gar Glück?
Maria hatte ihn erreicht. Sie wurde Königin der Gezeiten und gebar zwei Töchter des Mondes. Gerecht und milde regierte sie ihr Volk. Und wieder schluckte die Gewohnheit den Zauber des Außergewöhnlichen. Gibt es denn niemanden auf dieser Welt, der den Glanz zu halten vermag?
Oh ja, es gibt ihn! Und es gibt sie!
Es sind die vielen bunten Gestalten, die durch unsere Träume tanzen, leicht und schillernd. Und wenn sie dann durch die Hand eines Malers im Farben- und Formenrausch entstehen oder durch die Magie eines Komponisten in unseren Köpfen gebildet werden oder wenn ein ganzes Universum durch die Kunst eines Schriftstellers in uns einfließt dann bleibt der Zauber des Außergewöhnlichen lebendig.
Doch Maria war zu sehr in ihrer Alltagswelt gefangen, und so merkte sie nicht den allmählichen Abschied, den schleichenden Tod der Liebe.
"Zu spät!" tobte das Meer. Und ein großer Schatten zerfloss in dem eines anderen zu einem einzigen neuen. Und ein Tanzen und vibrieren ließ das Meet erzittem. Maria wurde gegen einen Felsen geworfen, der sie zu zerschmettern drohte.
"Fisch, mein Fisch, wo ist Deine Zärtlichkeit!" schrillte ihre Stimme.
Und wieder stand sie da, hörte die Wellen klagen, als hätten sich im Meer alle Tränen der Menschen gesammelt. Und sie floh aus der Geborgenheit in die Ungewissheit der ewig Suchenden.
"Wohin?" zirpten die Gräser. "Wohin?" raunten die Sträucher. "Wohin?" so zog sich die Frage den kleinen, steinigen Pfad hinauf. Disteln und Dornengestrüpp machten die Füße wund. Geschickte Hände rieben, massierten, streichelten.
Ach, wären's doch nur die Hände des einen oder des anderen, nur nicht die eigenen. Die Hände des Schönen, Kraftvollen oder die Hände des Zärtlichen. Und Maria schaute zurück auf's Meer, und ein salziges Etwas zog Spuren durch ihr Gesicht, benetzte die Lippen.
Da gibt es das große Geheimnis des Lebens und Überlebens. Marias Füße hatten es geschafft. Sie hatten sich der rauhen Umgebung angepasst, zeigten dicke Schwielen und Hornhäute. Doch nur Marias Füße.
Eines Morgens, als der Wind Gräser und Sträucher zu Boden bog, an ihrem Haar zerrte, ihr das Blut ins Gesicht trieb, da hörte sie aus der Höhe des unbegrenzten Firmaments einen seltsamen, schwingenden Ton. Er war wie die Melodie des Wassers und des Windes und wie alles Möwengeschrei.
"Schöne Frau, vergiss Deinen Weg. Ich zeige Dir das Dach der Welt."
Sie sah, wie ein mächtiger Vogel auf sie zusteuerte. Schwingen, so groß, dass der Schatten Marias Gestalt verschluckte und den Strauch daneben und den kleinen Vogel darauf. Violett das Gefieder und über dem Körper punktförmig Gold, so rauschte er heran.
Ein geheimnisvoller Magnetismus machte sie willenlos. Sie ließ sich auf seine Schwingen nehmen, und schon erhob er sich hoch in die Lüfte.
"Bitte, lieber Vogel, bitte lass mich runter", flehte sie.
"Kannst Du fliegen?" spöttelte der Vogel. "Sieh nur, wie klein die Bäume schon sind, und der Hase dort schrumpft zu einem Punkt."
Mit kraftvollem, regelmäßigem Flügelschlag flog er höher und höher hinauf.
"Hattest Du jemals diesen Abstand, diesen Überblick?"
"Ich hab ihn nie gebraucht, nie gekannt."
"Und die Neugier? Wo blieb bei Dir die Neugier?"
"Nur innerhalb der Grenzen meiner Geborgenheit. Niemals darüberhinaus."
"Und das hat Dir gereicht? Nun, kennst Du die Freiheit? Sie gibt Dir tausend Augen. Und Du schaust, wenn Du willst, mit den Augen einer Schnecke oder eines Adlers oder eines Walfisches, so, wie's beliebt. Du kannst die Blickrichtung selbst bestimmen."
"Ach, lieber Vogel, hab nie die Welt mit eigenen Augen gesehen. Erst waren's die Augen des Pferdes, dann die des Fisches, doch meine hielt ich stets geschlossen."
"Ich will Dir helfen, Deine Augen zu gebrauchen", flötete der Vogel.
Und Maria saugte die Worte, Tropfen für Tropfen, wie ein unbekanntes, köstliches Getränk, in sich hinein. Sie trank und war berauscht. Doch ihre Augen hielt sie geschlossen.
Worte kann man hören, Worte kann man erleben, Worte kann man leben. Und Maria hörte die Worte. Doch Maria lebte die Worte durch das Leben des Vogels und wurde Vogel. Der Wind zeigte ihr mit Wüten und Brausen und Toben die Entfesselung, auch die Gewalt. Und Maria ließ sich schütteln und hinwegfegen, wie ein welker Strauch, der kraftlos seine Wurzeln in den Himmel streckt, die Böschung
hinunterrollte, über die Straße, den Weg entlang zum Nirgendwo.
"Erst, wenn Du den Wind bezwingst, Deine Richtung selbst bestimmst, Dich von ihm nur nach eigenem Belieben tragen und Zerren lässt, dann hast Du die Freiheit gewonnen", hörte sie den Vogel.
Dann löste er sich aus der Verbindung, und Maria rutschte ab. Sie trudelte, stürzte, vermochte sich nicht zu halten und sauste dem Abgrund entgegen. Der freie Fall lässt sich berechnen. Die Aufprallgeschwindigkeit, bei der ein Körper zerschellt, lässt sich exakt berechnen.
Maria fiel.
Vorbei an dem Vogel, dessen Name Freiheit war. Der Worte lebte und Leben durch Worte gebar.
Maria fiel.
Und streifte den Fisch. Und der war riesengroß. Der rieb Zelle für Zelle an ihrer Haut. Weich fühlte sich das an und machte innen und außen warm. Sein Name war Zärtlichkeit.
Maria fiel.
Das Bildnis einer Statue von unendlicher Grazie glitt vorüber. Kraft und Harmonie vollendet im Körper eines Pferdes. Schönheit wurde es genannt.
So, wie der Abgrund auf sie zuwuchs, so wuchs die Angst.
"Halt!" schrien ihre Arme und reckten sich empor.
"Rettung! " signalisierte ihr Körper.
Dann der Versuch, mit dem Verstand dem Unheil zu entgehen. Hätte er nur ausgereicht, wäre kein neuer Versuch unternommen worden.
Gefühl, mit Gefühl das Leben meistern...
Aber war's nicht das Gefühl, das sie in diese missliche Lage gebracht hat?
Immer möcht ich voller Kraft und Schönheit sein, immer möcht ich sein, wie du.
Immer möcht ich sein, wie du...
Wie du?
Plötzlich veränderte sich in Maria der fremde Klang auf eine wunderbare Weise. Und sie verstand die Botschaft des Pferdes, des Fisches, des Vogels.
Da verwandelte sich der finstere Abgrund in ein lichtes, loderndes Feuer. Die Flammen züngelten und leckten und fraßen das Leid. Sie fraßen den aufkommenden Hass. Und sie hatten ausreichend Nahrung, so dass eine mächtige Feuerwand brausend durch den Abgrund jagte. Da ächzte der Boden. Und unter der Asche regte sich vorsichtig das Neue.
Maria erkannte Maria.
Und sie sah Schönheit, fühlte Zärtlichkeit und ließ ihre Gedanken wie Vögel umherflattern.
Wie wird dieses Unfassbare genannt? Reicht dieses Wort, dieses schlichte Wort 'Glück', um den Zustand zu bezeichnen, den Maria nun nach all ihrem Suchen ereicht hat?
Sie hatte die fremde Sprache, die aus dem Unbewussten kam, zu ihrer Sprache gemacht. Und wenn sie redete, so kamen die Worte aus der Tiefe und jeder, der ein offenes Ohr hatte, spürte die Kraft.
So hatte Maria tief in Maria geschaut.
Sie hatte erblickt, wonach jeder sich sehnt. Sie hatte erblickt, wovon jeder träumt.
Dabei wurden ihre Augen von Tiefe und Glanz erfüllt, dass Du, wenn Du sie irgendwo auf der Straße oder sonstwo siehst, sofort weißt, das ist Maria.
"Nun, schau nicht so ratlos. Was möchtest Du noch wissen?"
"Weiter, erzähl, was aus Maria geworden ist."
Die Stimme der Tochter klingt hell und quirlig durch den Raum. Ihr schmales Gesicht zeigt eine Spur von morgen.
Und ich ahne, wie auch sie durch die Begegnung von Pferd, Fisch und Vogel gezeichnet werden wird.
"Maria lebt und hat viele Gesichter. Schau Dir die ungebeugten Frauen an. Auch sie haben Tränen, doch hinter den Tränen siehst Du schon, wie hinter Nebelschwaden, den aufblitzenden Glanz des Lächelns. Und wenn sie lachen, so schwingst Du unwillkürlich mit. Du bekommst nie genug davon.
Es ist wie der Gesang des Wales, der die Meere durchzieht.
Es ist wie das kraftvolle Wiehern eines davonstiebenden Pferdes.
Es ist wie die Melodie der Nachtigall, in der die Töne wie Diamanten zu einem strahlenden Liedcollier zusammenfügen.
Gib acht, wenn Du Maria findest, gib acht, dass Du sie nie verlierst. Du kleine Maria?

Dreifach zerrissener Traum.
Dazwischen du und ich
umflirrt von Wärme.

Publ. 1990 in Bolero und Peitsche

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Interne Verweise

Kommentare

11. Sep 2016

Ein Text mit Inhalt, der doch leicht
Und tief die Leserschaft erreicht ...

LG Axel

12. Sep 2016

Ein herzliches Dankeschön an Axel, der wieder mal einen treffenden Zweizeiler gedichtet hat. Tut gut!
LG Monika
Und für die Klicks ganz lieben Dank an Axel, Willi, J.W. Waldeck, LitPro und Alf.

14. Okt 2016

Das geht tief und hat ein wunderschönes Ende. Danke für diese faszinierende Geschichte.
Herzliche Grüße, Susanna

14. Okt 2016

Freu mich sehr! Lieben Dank, Susanna.
Noch einen sonnigen Herbsttag mit guten Gedanken und Ideen wünscht Monika

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