Märchen (nicht ganz stubenrein, aber solidarisch) Fortsetzung: Der Wolf und die 7 Geißlein

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Da saß es nun, das junge Geißlein, das jüngst vor dem bösen Wolf in den Uhrkasten geflüch­tet war, um nicht gefressen zu werden, saß still und einsam in einer dunklen Ecke des Geißen-Kinderhorts, als sei ihm das Flüchten zur Gewohnheit geworden. Mutter Geiß, die ihr jam­merndes Kind in den Hort geschleppt hatte, war längst auf Futtersuche im Wald; die anderen Geißerchen, vor denen sich das junge Geißlein arg fürchtete, hockten mit Tilda, der Hortleite­rin, an einem Tisch und zogen Ketten aus Haselnüssen auf. Nach einer Weile erhob sich das Geißerchen Anja vom Sternthalerhof von seinem Platz und setzte sich neben das ängstliche Geißlein, das einen Vorderhuf vors Gesicht gezogen hatte und so tat, als wolle es niemanden sehen und von niemandem gesehen werden. Anja zog sanft den Huf fort und zeigte dem Klei­nen, wie man aus Kastanien lustige Figuren bastelt. Das fand das junge Geißlein sehr witzig.
Es folgte Anja zu den anderen Geißerchen an den Tisch und fühlte sich dort schon bald pudel­wohl. Als die Kuckucksuhr vierzehnmal schlug, klatschte Tilda in die Hände und rief: „Alle Geißlein zum Abschlusskreis!“
Die Geißerchen zogen das kleine Geißlein mit sich in den Vorraum, stellten sich Huf bei Huf im Kreise auf und schmetterten: „Ein Männlein steht im Walde, ganz still und stumm ...“
Aber o weh!, das kleine Geißlein musste plötzlich dringend auf die Toilette, traute sich jedoch nicht, den munteren Gesang zu unterbrechen und strullerte in die Hose. Sogleich stand es inmitten in einer Pfütze und schämte sich fast zu Tode. Weil aber die Geißerchen während des Singens bedächtig im Kreis herumliefen, wusste niemand, wer den kleinen See verursacht hatte. ‑
„Wer war das?“, fragte Tilda mit strenger Miene und zeigte auf das Malheur. Niemand meldete sich, auch das junge Geißlein blieb stumm. Es sagte nicht Piep und nicht Papp.
„Nun, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als eure Höschen zu kontrollieren, damit wir den Übeltäter finden“, seufzte Tilda. Sie wollte sogleich beim Geißen-Peterle beginnen, als alle Geißerchen wie verabredet zu pullern und zu strullern begannen, und im Nu stand ein jedes Geißlein in einer kleinen Pfütze, so dass der Schuldige nicht mehr gefunden werden konnte. ‑
„Du auch, Anja?“, fragte Tilda fassungslos.
„Das war ein absoluter Härtefall, Tante Tilda; es kommt ganz gewiss nicht wieder vor“, sagte Anja. „Ganz gewiss nicht, Tante Tilda“, riefen die Geißerchen im Chor. Das Uhrkasten-Geißlein rief am lautesten. Und weil es fast schon Herbst und draußen recht kühl war, sprang Tilda rasch ins Dorf zu Familie Ziegenkötter, die Jacken und Hosen verkaufte, und besorgte siebzehn himmelblaue Geißerchen-Höslein. Im Kinderhort wurde derweil gewischt und geschrubbt, bis der Vorraum wieder blitzblank war. Die Geißerchen hatten eine Menge Spaß dabei und sangen heitere Lieder. Als die alte Geiß ihr Jüngstes abholen wollte, sprang es ihr fröhlich entgegen.
„Nun, wie war es im Kinderhort?“, fragte Mutter Geiß.
„Toll, Mama! Morgen gehe ich wieder hin“, sagte das kleine junge Geißlein und schenkte seiner neuen Freundin Anja zum Abschied ein dankbares Lächeln.

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