Das Stigma – oder: etwas, womit sie nicht gerechnet hatte....
Eines Morgens bekam sie einen Anruf: der Lokalchef der größten Tageszeitung ihres Wohnorts wollte sie sprechen. „Könnten Sie nach Feierabend bei mir im Büro vorbeischauen? Es ist eine ziemlich dubiose Sache...“
Als sie nichtsahnend die Redaktion betrat, zeigt er ihr mit undurchdringlichem Gesicht einen anonymen Brief. Vier Zeilen -strotzend vor Selbstgerechtigkeit, Scheinheiligkeit und nicht zu übersehender Saubermanideologie.. Der Verfasser wies darin süffisant auf die Seite im Internet hin, auf der sie für ihre Dienstleistungen warb .
Ihr Gesprächspartner war bereits dem Hinweis gefolgt und präsentierte ihr den Ausdruck ihrer Seite: ein paar freizügige Fotos und ein frecher Text .
Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Seit Jahren lebte sie schon in dieser Stadt, sie war eine stadtbekannte Persönlichkeit, engagierte sich seit vielen Jahren sozial und politisch – aber das alles hatte ihr nichts genützt. Seit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes vor rund drei Jahren hatte sie alles Menschenmögliche versucht, um beruflich wieder auf die Beine zu kommen. Aber egal was sie sich auch ausdachte: niemand schien sich dafür zu interessieren – ihr ehrenamtliches Engagement wurde gern genutzt, aber bei all den Dienstleistungen die sie gegen Geld anbot, in der Hoffnung, davon leben zu können, war die Resonanz gleich Null.
Schließlich griff sie zu einem allerletzten Strohalm: sie gab ein Inserat auf und bot ihre Dienste als Domina und Bizarrlady an...
Zum ersten Mal seit Jahren schienen ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt. Die Resonanz überraschte sie – offentsichtlich hatte sie eine Marktlücke entdeckt. Sie fasste wieder Zutrauen zu sich selbst , zu ihren Fähigkeiten und ihrem kreativen Potenzial . Ihre Gäste begegneten ihr mit Vertrauen, Respekt, ja mit Zuneigung. Sie hatte Freude an dieser Arbeit – und langsam fing sie an, wieder Tritt zu fassen.
Und dann auf einmal dieser Angriff aus dem Hinterhalt. Heimtückisch und übelwollend.
Sie verstand die Welt nicht mehr – was hatte sie denn Verwerfliches getan?
Sie hatte niemanden geschädigt, niemanden gefährdet, niemanden betrogen – und trotzdem stand sie am Pranger.– geschmäht und gemieden , ausgestoßen wie eine Aussätzige , denn natürlich
ließ sich der Chefredakteur diese pikante Geschichte nicht entgehen – sie wurde durch mehrere Ausgaben der Tageszeitung geschleift, und obwohl niemals ihr Name genannt wurde, konnte man sie ohne Schwierigkeiten identifizieren.
Auf einen Schlag verlor sie sämtliche Ehrenämter... aus der Amateurtheatertruppe, in der sie über Jahre viele Vorstellungen mit Erfolg mitgestaltet hatte, flog sie heraus – die Leiterin der Kinder-und Jugendbibliothek, wo sie gelegentlich den Kindern vorgelesen hatte, meinte, sie brauche nicht mehr zu kommen, und ehemalige Arbeitskollegen schauten durch sie hindurch wie durch Luft, wenn sie ihnen in der Stadt begegnete oder wechselten demonstrativ die Straßenseite.
Ihr Freundes- und Bekanntenkreis schrumpfte rapide – und alles nur deswegen, weil sie das getan hatte, was die Verfechter des Neoliberalismus und der Freien Marktwirtschaft tageintagaus allen Langzeiterwerbslosen unter die Nase reiben: sie hatte sich an der eigenen Nase gefasst, angefangen, das zu tun, was sie gerne und gut machte und sich ihren Arbeitsplatz selbst geschaffen, anstatt sich auf die widerwillig gezahlten Almosen des Sozialstaats zu verlassen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich von diesem Schlag erholt hatte – und wenn man sie heute fragt, welchen Menschenschlag sie verabscheut und verachtet, dann antwortet sie: „Den braven Bürger“.