„Hier Grottenbach Hauptbahnhof. Der eingefahrene Regionalexpress fährt in wenigen Minuten weiter nach Rieselfeld. Sie haben Anschluss....“
Alice Wieselflink verließ hastig den Zug , stieg zügig die Treppe hinunter und durchquerte die heruntergekommene Bahnhofshalle. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie trotz der üblichen Verspätung von rund 20 Minuten immer noch Zeit genug hatte, pünktlich zu ihrem Termin zu kommen – nach ihren Recherchen im Internet lag die Geschäftsstelle der Gewerkschaft „Marmor Stahl und Eisen“, in der das Vorstellungsgespräch stattfinden sollte, in Bahnhofsnähe und müsste in 15 Minuten auch leicht zu Fuß erreichbar sein.
Aber sie hatte sich geirrt, denn auf dem Bahnhofsvorplatz empfing sie Chaos: offensichtlich hatten sich die Stadtväter nach einem endlosen Hin und Her nun DOCH entschlossen, den Busbahnhof zu verlegen und durch einen Parkplatz zu ersetzen. Alice Wieselflink versuchte sich zu orientieren und einen Weg durch das Gewirr von Baugruben, provisorisch angelegten Fußgängerpfaden und frei liegenden Versorgungsleitungen zu finden . Verdammt nochmal – in welche Richtung musste sie denn überhaupt? WO genau war der Sparrenburgweg? Bei einem Blick in ihre Handtasche stellte sie fest, dass sie den vorsorglich ausgedruckten Auszug aus dem Stadtplan zuhause vergessen hatte. Dumm gelaufen... aber irgendwo hier in Bahnhofsnähe müsste doch eigentlich ein Stadtplan aushängen.
Nach rund fünf Minuten Suchen fand sie dann am Rande des Trümmerfeldes, das vor Beginn der Baumaßnahmen der Bahnhofsvorplatz von Grottenbach gewesen war, einen verheißungsvoll wirkenden Schaukasten. Sie ging hin – und las – vollkommen entgeistert – die Worte: „Hier hängt demnächst der neue Stadtplan von Grottenbach .“ Alice Wieselflink schaute auf die Uhr: noch zehn Minuten bis zum Termin. Wäre vielleicht doch noch zu Fuß zu schaffen....
„Entschuldigen Sie bitte – können Sie mir sagen, wie ich zum Sparrenburgweg komme?“ Der freundliche ältere Herr zuckte bedauernd die Achseln: „Ich nix verstähn Deitsch.“ Und die rundliche junge Frau mit Kopftuch, die mit zwei kleinen Kindern im Schlepptau die Straße überquerte, warf Alice Wieselflink nur einen verschreckten Blick zu und hastete weiter, ohne sie einer Antwort zu würdigen. Zähneknirschend beschloss Alice , Geld in ein Taxi zu investieren.
Neben dem Fahrer sitzend musterte sie skeptisch das städtische Panorama das an ihr vorüberzog. Eine Bahnunterführung, dann der Blick in eine Fußgängerzone mit den üblichen Filialisten, ein gesichtsloses Wohnviertel aus den 50er Jahren, eine Schnellstraße, ein struppiger Grünzug, dem man schon im Vorüberfahren ansah, dass das städtische Grünflächenamt sich hier nicht zuständig fühlte.... „Hier möchte ich nicht tot über den Zaun hängen...“ dachte Alice.
Trotzdem griff sie zu, als sie eine Woche nach dem Vorstellungsgespräch das Arbeitsangebot aus Grottenbach erhielt: Festanstellung als Redakteurin beim neu gegründeten Lokalsender „Radio Grottenbach 08/15“ . Denn dieses Angebot war ihre letzte Chance, um überhaupt noch beruflich Fuß zu fassen, und das wusste sie.
Alice Wieselflink war keine leicht zu handhabende Zeitgenossin.
Eine ihr ansonsten recht wohl gesonnene Dame der etwas besseren Gesellschaft, die sie in Ausübung ihrer journalistischen Arbeit kennen gelernt hatte, hatte mal zu ihr gesagt: „Sie polarisieren. Entweder man mag Sie – oder man mag Sie nicht. Dazwischen gibt es nichts. Aber DAS macht es für Sie nicht leichter. Versuchen Sie doch mal, ein bisschen weniger apodiktisch zu sein...glauben Sie mir, meine Liebe... Sie machen es sich manchmal unnötig schwer.“
Alice hatte diesen sanften Tadel stillschweigend weggesteckt und war dieser Dame seitdem aus dem Weg gegangen. Sie polarisierte also....na und? „Eine Journalistin, die everybodys darling ist, hat ihren Beruf verfehlt“ war einer ihrer Lieblingssprüche. Dazu kamen dann noch so Parolen wie: „Ich bin lieber der „Besen“ , als das Kleine Doofchen“ oder „Lieb sein kann jeder – aber warum soll ich das machen, was alle können?“ Dazu kam eine ziemlich spitze Zunge, eine recht scharfe Beobachtungsgabe, wenn es um menschliche Schwächen ging – die aber leider nicht die eigene Person einbezog.
Das war die eine Seite von Alice Wieselflink. Wer sich die Mühe machte, sie besser kennen zu lernen, stellte irgendwann fest, dass sich unter dieser stacheligen Oberfläche ein sehr verletzbarer Mensch versteckte, der sich nichts sehnlicher wünschte, als geliebt und anerkannt zu werden und sich in den Dienst der guten Sache zu stellen – egal welcher.
Und Alice Wieselflink war einer unbegrenzten Loyalität fähig, die schon masochistische Züge annehmen konnte – aber ebenso schnell in abgrundtiefe Verachtung umschlug, wenn sie herausfand, dass der Gegenstand ihrer Verehrung auch nur ein Mensch war.
Also nicht eben das, was man als Charmebolzen bezeichnet....
Raumgreifend, fast aggressiv auftretend, spitzzüngig bis zur Biestigkeit, Gerechtigkeitsliebend bis zur Rechthaberei, immer bereit sich für irgend etwas in die Schanze zu schlagen, hin und wieder mit einer handfesten Profilneurose gesegnet – und irgendwo hinter diesem Stacheldrahtverhau ein ängstliches kleines Mädchen, das sich manchmal wunderte, warum denn alle so ekelhaft zu ihr waren.
Mit Vorgesetzten hatte sie regelmäßig Probleme, denn sie konnte sich das Widersprechen nicht abgewöhnen.
Kein Wunder, dass sie es , obwohl sie gut schreiben konnte und ein Gespür für Themen hatte, bisher noch nicht zu einer Festanstellung gebracht hatte. In der Regel überlebte sie die Probezeit nicht und ein guter Bekannter hatte mal gesagt: „Du hast eben Probleme mit hierarchischen Strukturen..“ „Dann muss ich wohl selber Chefin werden“ , hatte sie darauf geantwortet – und war zu diesem Bekannten auf Distanz gegangen.
Der Job im Grottenbach – mit rund 150 Km Distanz zu ihrem alten Wohnort am Rande des Ruhrgebiets schien tatsächlich die letzte Chance zu sein. Endlich beruflich auf die Füße fallen und irgendwo ganz neu anfangen wo einen keiner kennt, wo man noch nicht auf bestimmte Verhaltensformen festgelegt ist und sich ganz neu erfinden kann. Alice Wieselflink griff zu und beschloss, sich auf Grottenbach einzulassen....
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Wohnt allem Anfang ein Zauber inne? Was ist das Spannende, Fesselnde an Premieren, Vernissagen, Neueröffnungen? Ist es nicht das Gefühl, das ganze Leben fängt neu an ? Noch mal von vorne, am Nullpunkt? Ist es nicht das Gefühl, dass alles möglich ist? Im Buch des Lebens wird ein neues Kapitel aufgeschlagen und es besteht aus lauter unbeschriebenen Blättern. Erst danach bilden sich Strukturen, fangen an , sich zu verfestigen, schleifen sich Arbeitsabläufe ein, bekommen die Akteure ihren festen Platz und ihre Rolle, aus der sie dann nicht mehr herauskönnen – es sei denn, sie wechseln das Lokal.
Aber bis es soweit ist, ist alles noch ein Abenteuer – das Abenteuer des Neuanfangs. Und alle, die dabei sein dürfen, bekommen ein bisschen was davon ab – von dieser Lust am Aufbruch zu Neuen Ufern.
In den Redaktionsräumen von Radion Grottenbach 08/15 ballte sich die Ortsprominenz. Alle waren da – vom Bundestagsabgeordneten über den Bürgermeister bis hin zum Pressesprecher des hiesigen Großunternehmens. Teils mit – teils ohne Gattin.
Hinzu kamen Vertreter des mittelständischen Einzelhandels, denn selbstverständlich standen alle jene, die beim jungen Lokalsender Werbespots gebucht hatten, auch auf der Gästeliste.
Nicht zu vergessen natürlich auch die Vertreter der gesellschaftlichen Gruppierungen die im Aufsichtsrat des Senders eine Rolle spielten: Kirchenvertreter, Verbandsvorsitzende, Gewerkschaftsbevollmächtigte – und zwischendrin sogar ein paar Journalisten.
Alle scharten sich ums Buffet, sprachen eifrig den Getränken zu, machten Smalltalk, spannen ihre Intrigen, überlegten sich – jeder für sich und einige auch miteinander – wie sie das neue lokale Medium für sich dienstbar machen könnten und hörten zwischendurch mit halbem Ohr auf das Programm das aus den Lautsprecherboxen tönte.
In den zwei Monaten, die dem großen Tag vorausgegangen waren, hatten die frischgebackenen Rundfunkredakteure alle Hände voll zu tun gehabt. Sie hatten sich vorgestellt: bei den Ortsgewaltgen aller Städte und Gemeinden des Sendegebiets und bei den Volkshochschulen, hatten kleine Galerien und große Firmen abgeklappert und überall ihre Gesichter präsentiert und ihre funkelnagelneuen Visitenkarten dagelassen, hatten sich über Programmschemata und Themen die Köpfe heiß geredet, hatten bunte Geschichten vorproduziert für den Sendestart und die ersten Tage nach Sendebeginn, waren in politische Gremien gegangen und zu den Kleintierzüchtern, und hatten – jeder für sich – nach ihren ganz persönlichen Spezialgebieten gesucht, die sie in Zukunft beackern sollten. Und während sich die Gäste Essen und Trinken schmecken ließen, schwitzten sie im Studio.
Ja – sie schwitzten – und zwar ganz gewaltig. Denn der Betreiber des neuen Lokalsenders hatte an alles Mögliche gedacht, nur nicht an eine Klimaanlage . Und bei dem heißen Spätsommertag draußen, an dem die Sonne ungehindert durch die großen Fenster strahlte (Gardinen waren nicht vorgesehen, denn jeder Passant sollte den Radioleuten auf die Finger gucken können.) - und die Geräte im Studio zusätzliche Hitze produzierten – stieg die Temperatur im Senderaum rasch über die 30°-Marke. Aber das nahm das Redaktionsteam kaum wahr. Alle waren mit Feuereifer bei der Sache und sie merkten gar nicht, dass ihnen von den Gästen in Nebenraum eigentlich niemand wirklich zuhörte. Nach fünf Stunden Sendebetrieb am Stück leerte sich dieser Raum ziemlich rapide. Ein Gast nach dem anderen brummelte „Ich muss los“ und räumte das Feld.
Und als das Team von Radio Grottenbach 08/15 mit den 17.00 - Nachrichten die Live-Sendung aus Grottenbach beendet hatte und nach Aufschalten auf das überörtliche Rahmenprogramm verschwitzt und total groggy aus dem Studio kam – fand es nichts mehr vor, womit es sich nach dem langen Arbeitstag hätte belohnen können. Das Buffet war, bis auf ein paar einsame Frikadellen und einen mikroskopisch kleinen Rest Nudelsalat, abgegrast, vom Bier und vom Sekt war auch nichts mehr da – nur in einer Ecke des Redaktionsraums fand sich noch eine halbe Flasche lauwarme Cola.
„Na Mahlzeit.....“ dachte Alice Wieselflink , deren Magen gewaltig knurrte und die sich auf ein paar leckere Häppchen vom Buffet und ein Schlücken Sekt gefreut hatte, “das fängt ja gut an...“. Laut sagte sie: „Ist ja toll, wie unser Arbeitgeber an uns denkt...“ und handelte sich dafür einen giftigen Seitenblick der Chefredakteurin Anneliese Amberger ein.
Die drei Redakteure und ihre Chefin standen noch eine Weile unschlüssig im Redaktionsraum herum, sahen zu, wie das Putzteam das Chaos beseitigte, und beschlossen dann, die Radiopremiere in der nächsten Kneipe mit einem Bier zu beschließen. Auf eigene Kosten versteht sich.
Und Alice Wieselflink fragte sich im Stillen, ob es wirklich so klug gewesen war, sich auf Grottenbach einzulassen.....
(Fortsetzung folgt)
Radio Grottenbach 08/15 - ein satirischer Medienroman - erstes Kapitel
von Almuth Wessel
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