31. Oktober 2016, mittags um halb zwölf
„Ach du liebe Zeit, schon wieder so spät - und ich muss doch um zwölf beim Orthopäden sein!“„Kein Problem, ich fahr dich hin.“„Dann komm, wir müssen los.“ Die Haustür fällt ins Schloss, eilige Schritte entfernen sich. Kurz darauf springt draußen der Motor eines kleinen roten Citroen an. Das Motorengeräusch verklingt, und in den wohlgeordneten Räumen des schönen Hauses mit dem liebevoll gepflegten Garten wird es still.
Der kleine rote Wagen schnurrt über schmale Nebenstraßen. Es ist ein sonniger, heiterer Tag im Herbst, der Himmel fast wolkenlos. Die Beiden im Auto unterhalten sich lebhaft miteinander. In wenigen Tagen ist Allerheiligenkirmes – sie freuen sich auf den Besuch ihrer Kinder und Enkelkinder.
Zehn vor zwölf
Der rote Citroen flitzt eine Hügelkuppe hinauf – auf die Kreuzung mit der Hauptstraße zu. Er fährt - wie immer – ein wenig zu schnell...„Ziemlich viel Verkehr“ denkt die Frau auf dem Beifahrersitz.„Du...“, wendet sie sich ihrem Mann zu, will ihn bitten, etwas vorsichtiger zu fahren. Er schaut lächelnd zu ihr hin.
Plötzlich ein dumpfes Krachen.Sie spürt einen harten Aufprall, die Welt verschwimmt vor ihren Augen zu einem wirren Kaleidoskop: der kleine rote Wagen überschlägt sich.
Später wird die Polizei feststellen, dass ihn zwei andere Autos fast gleichzeitig von beiden Seiten gerammt haben.
Als sie wieder zu sich kommt, liegt sie eingeklemmt zwischen den zerstörten Vordersitzen und den ausgefahrenen Airbags – unfähig, sich zu bewegen. Wie durch Watte hört sie eine Männerstimme: „Hallo – hören Sie mich? Halten Sie durch – gleich kommt Hilfe“. Sie fühlt den Griff einer Hand, die sich ihr aus dem Nirgendwo entgegenstreckt, erwidert mühsam den Händedruck, will fragen: „Was ist passiert?“ Aber die Kraft verlässt sie, und die fremde Hand entgleitet ihr.
Erst nachdem der Bergungstrupp ihre Leiche aus dem Wrack geholt hat, wird ihr Mann entdeckt: Er ist in den Fußraum gerutscht, besinnungslos und liegt wie eingesargt zwischen der deformierten Karosserie und den Trümmern des zerborstenen Armaturenbretts. Noch während ihn die Retter aus diesem Chaos zu bergen versuchen, stirbt er, ohne noch einmal zu Bewusstsein zu kommen.
Halb eins
Auf der Kreuzung sichern Polizeibeamte die Spuren des Unfalls. Die Leichen des Paares aus dem roten Citroen werden in die Pathologie überführt, die Autowracks von der Staatsanwaltschaft sicher gestellt, ein Abschleppunternehmen übernimmt den Abtransport. Nach ein paar Stunden sind nur noch die Kreidemarkierungen zu sehen, die die Polizisten auf das Pflaster gezeichnet hatten.
Nachmittags, halb sechs
Ein heiterer, sonniger Herbsttag geht zu Ende. Der Himmel ist noch immer wolkenlos und die untergehende Sonne taucht die Soester Börde in ein warmes goldenes Licht. Die Kreidestriche auf dem Asphalt verwischen unter den Rädern des Feierabendverkehrs. Die Schatten werden tiefer, das Tageslicht schwindet, und in die wohlgeordneten Zimmer des schönen Hauses mit dem liebevoll gepflegten Garten kriecht die Dunkelheit.
Wenige Tage später
Ein Schlüssel dreht sich im Schloss der Haustür, einige Menschen betreten die Diele und halten einen Augenblick inne. Eine junge Frau geht langsam durch den Raum, sieht sich ratlos um. „Wo soll ich hier anfangen? All das ordnen, wie soll ich das bewältigen?“ Ihr Mann legt den Arm um sie: „Wir schaffen das, wir stehen ja nicht unter Druck.“
In den kommenden Wochen und Monaten wird es geschäftig in dem verwaisten Haus. Die Hinterbliebenen sichten das Inventar und beginnen auszumustern. Es sind schöne Möbel da, teure Teppiche, kostbares Porzellan, im Arbeitszimmer des Hausherrn viele Bücher zu spirituellen Themen. In der Diele hängt ein großes Familienbild, das eine heimische Künstlerin gemalt hat. Nach und nach wird das verwaiste Haus leer - wandelt sich von einem liebevoll gepflegten Zuhause zu einer leeren, erstorbenen Hülle. Jemand vernagelt die Fenster - das Haus erstarrt.
Februar 2017
Eine fremde Frau geht rasch und mit suchendem Blick die Straße entlang. Vor dem verlassenen Haus hält sie an und schaut sich vorsichtig um. Dann betritt sie das Grundstück. Niemand bemerkt sie, als sie verstohlen dem schmalen Pfad folgt, der um das Haus herum in den Garten führt.
Der Garten ist winterlich kahl – nur an einer geschützten sonnigen Stelle blühen ein paar leuchtend gelbe Winterlinge. Auf einer Mauer entdeckt sie Reste von herunter gebrannten Kerzen – letzte Erinnerung an einen schönen Sommerabend. Die Frau setzt sich auf die Gartenmauer und starrt auf das leere Haus. Lange sitzt sie regungslos, schluchzt manchmal leise auf. Ihre Augen sind trocken, ihr Gesicht ausdruckslos und wie leer geweint. Sie hat jegliches Zeitgefühl verloren.
Plötzlich schreckt sie auf. Etwas leuchtet ihr ins Gesicht und streichelt es: ein Sonnenstrahl hat sich in einer durchsichtigen massiven Glaskugel verfangen, die in einem schmiedeeisernen Halter ein Beet schmückt. Sie erhebt sich schwerfällig, geht zu dem Beet und steckt die Glaskugel ein. Dann verlässt sie den Garten. Zu Hause wird sie diese Glaskugel in eine Schale legen, die sie mit Erde vom Grab der Verstorbenen gefüllt hat.
Mai 2017
Das Haus ist leer geräumt, das Inventar verkauft, verschenkt oder unter den Erben verteilt. Auf der Straße steht jetzt nur noch das, was keiner haben wollte: ein paar Stühle, etwas Hausrat.
Wieder kommt die fremde Frau die Straße entlang, betrachtet verstört den Haufen Sperrmüll. Eine Nachbarin spricht sie an: Das Haus sei verkauft. “Es sind nette Leute aus der Nachbarschaft – Freunde der Familie“ - Die beiden Frauen wechseln ein paar belanglose Worte, dann verabschiedet sich die Nachbarin.
Die Fremde nimmt, bevor sie ebenfalls geht, einige Gegenstände vom Sperrmüll an sich: Gläser, die in der Spülmaschine blind geworden sind, ein zerborstenes kleines Windlicht mit Bronzeumhüllung. Sie wird diese scheinbar wertlosen Dinge, die keiner der Erben für gut genug erachtete, liebevoll aufbewahren und ihnen in ihrem Haushalt einen Platz geben.
Juni 2017
Ein sonniger Frühsommertag - vor der Tür des verwaisten Hauses steht eine Kippe mit Holzabfällen, aus dem offenen Fenster klingt Radiomusik. Ein Handwerker streicht die Wände mit weißer Farbe.
Es klingelt. Die fremde Frau steht draußen und fragt, ob sie eintreten darf. Der Handwerker erlaubt es. Sie setzt sich in einen kleinen Erker im Wohnzimmer, erzählt, dass sie den früheren Besitzer gut gekannt habe. Beide plaudern ein wenig, sie wandert durch die leeren Räume, verharrt einen Augenblick im Arbeitszimmer des Hausherrn, betritt kurz den Garten - und geht wieder.
September 2017
Die neuen Eigentümer sind eingezogen. Sie haben beschlossen, den Garten vorerst so zu belassen, wie er ist.
Es klingelt. Der Mann öffnet. Draußen steht die fremde Frau, neben sich einen Blumentopf mit einem Ginkgobäumchen, das ihr bis zu den Knien reicht. Sie nennt ihren Namen. Dann versagt ihre Stimme, weil ihr plötzlich die Tränen kommen. Der Mann will Aufsehen vermeiden und bittet sie herein.
Sie setzt sich mit ihm an den Tisch in der Diele, erzählt, dass sie mit dem früheren Besitzer eng befreundet war, und dass sie ihm den kleinen Ginkgo zum Geburtstag hätte schenken wollen. Und ob sie, die neuen Besitzer, dem Bäumchen nicht Asyl gewähren möchten.
Der neuen Eigentümer hören ihr höflich zu. Gemeinsam gehen sie schließlich in den Garten und beratschlagen, wo der Ginkgo stehen könnte.
Als sich die Besucherin verabschiedet, versprechen sie ihr "das Bäumchen in Ehren zu halten".
Sie glaubt ihnen. Sie wird dieses Haus und diesen Garten niemals wieder betreten. Darum kann sie auch in Zukunft glauben , dass das Ehepaar Wort gehalten und der kleine Ginkgo tatsächlich seinen Platz gefunden hat.
Wie eine große Wanderdüne gleitet die Zeit über das Haus hinweg – in ihrem Treibsand versinken die letzten Erinnerungen an die zwei Menschen, die es gebaut und hier ein Zuhause für sich und ihre Kinder geschaffen hatten. Das letzte Echo ihrer Stimmen, der letzte Nachhall von Kinderlachen, fröhlichen Familienfeiern – aber auch von verhaltenem Zwist der Eheleute und verstohlenen Telefonaten des Hausherrn - ist verweht...
Die neuen Bewohner sind nicht mehr nur die Nachfolger des tödlich verunglückten Ehepaares. Dieses Haus ist jetzt ihr Haus.
Auf einem kleinen Friedhof ganz in der Nähe ruht die Asche der beiden Toten zu Füßen eines weißen Marmorsteins. Ab und zu bringt jemand Blumen dorthin und harkt ein wenig die Erde auf den Grabhügeln – Ende Mai kommt eine Blumenhändlerin und bringt ein Gesteck mit einer großen Schleife. Manchmal kommt die fremde Frau, pflanzt Frühlingsblumen und Rittersporn, stellt eine zusätzliche Grablaterne auf, steckt Blumenzwiebeln von Schneeglöckchen in die Erde, zündet Kerzen an.
Ein Jahr nach dem Unfall - 1. November 2017
In der Pfarrkirche wird das Jahresseelenamt für das Ehepaar begangen – die fremde Frau ist nicht dabei.
Im Anschluss an den Gottesdienst besuchen die Hinterbliebenen das Grab und sehen peinlich berührt das Aufgebot brennender Kerzen und den opulenten Kranz mit der großen Schleife. Lesen mit verständnislosen Gesichtern die Aufschrift : „Ihr verglühtet wie zwei Meteoriten. Jetzt seid ihr die schönsten Sterne im Universum.“
Achselzucken bei den Hinterbliebenen. Sie alle wissen, wer diesen Kranz bestellt hat.Sie kennen diese Person nur flüchtig, haben sie nur zwei Mal gesehen – bei der Beisetzung vor einem Jahr und beim Sechswochen-Seelenamt – aber nie wirklich mit ihr gesprochen. Diese Frau hat verzweifelte Briefe geschrieben, Trost gesucht, auf ein mitfühlendes Wort gehofft. Man will nicht mit ihr reden. Sie stört mit ihrer exzessiven Trauer. Einer Trauer , die laut schreit und sich wund schlägt an den Gitterstäben der Konvention, so wie ein gefangener Vogel sich wundschlägt an den Käfigstangen seines Gefängnisses. Die Hinterbliebenen versuchen, diese Trauer , die so gar nicht in ihr wohltemperiertes und saturiertes Weltbild passt, zu ignorieren. Und die Frau, die von dieser Trauer besessen ist, meldet sich nur noch selten und zaghaft zu Wort.
„Ich kann das ja verstehen, dass man mal was loswerden will – aber irgendwann isses auch jut“, kommentiert ein junger Mann aus der Gruppe der Hinterbliebenen den Anblick des Grabes – dann bückt er sich und reisst die Schleife des Kranzes ab. Die anderen nicken beifällig – diese Schleife ist eine Provokation – auffällig und aufdringlich. Es ist besser, wenn sie verschwindet.
Die große Wanderdüne Zeit verschüttet auch dieses Zeichen der Erinnerung. Der Kranz verwelkt, die Normalität kehrt zurück, die Friedhofsgärtnerei hat die Grabpflege übernommen, die Hinterbliebenen gehen zur Tagesordnung über, die Toten versinken in die Vergessenheit.
In einer anderen Stadt trauert eine fremde Frau. Sie denkt voller Dankbarkeit an den Verstorbenen und schwört sich, niemals zu vergessen, wie er war - dieser sinnliche und lebensfrohe Freibeuter mit dem hinreißenden Lächeln und den zärtlichen Händen, dessen Asche jetzt fünfzig Zentimeter tief begraben liegt im harten und zähen Lehmboden eines Dorffriedhofs in der westfälischen Provinz. Fest gebannt und eingekerkert zu Füßen eines protzigen Grabsteins aus weißem Marmor – anstatt aufzugehen in der Weite des Atlantik von Kap Fisterra bei Santiago de Compostela.
Er wollte mit seinem ältesten Sohn dorthin pilgern – und er hatte sich gewünscht, dass seine Asche dort ins Meer gestreut wird. Aber seine Familie hatte ihm schon zu Lebzeiten die Erfüllung dieses Wunsches verweigert.
Ist es denn jemals nach seinen Wünschen gegangen? fragt sich die fremde Frau. Was war seiner Begegnung mit ihr, aus der eine jahrzehntelange innige Freundschaft wurde,voraus gegangen? Was hatte ihn zu ihr hingezogen? Was habe ich, das seine schöne Frau nicht hatte?
Ist das familiäre Idyll, das er ihr immer wieder in leuchtenden Farben beschrieben hat, nur eine Chimäre? Die Kopfgeburt eines Mannes, der sein Leben erfolgreich gemeistert hat und es nicht ertragen könnte, wenn seine Familie keine Musterfamilie wäre?
Oder war er in seiner Familie zum Fremdling geworden? Hatten sie Angst um ihren Lebensstandard bekommen, als er seine spirituellen Neigungen entdeckte und begann, ihnen nachzugehen?
Hatte er sich auch in seinen Söhnen getäuscht, auf die er so stolz war?
Sie hat mit diesen Söhnen nur flüchtig Kontakt gehabt. Der eine hatte sie am Rande des Sechswochen-Seelenamtes verscheucht wie einen streunenden Hund. Der andere – Überbringer der Todesnachricht – distanziert sich panisch von ihrer obsessiven und leidenschaftlichen Trauer um seinen Vater, hat Angst vor ihrer Leidenschaft, ihrer Direktheit und ihrer Präsenz.
Ist es denn wirklich möglich, dass ein so warmherziger, offener und frei denkender Mann wie ihr verstorbener Freund solche Söhne haben kann?Sie mag die Antwort, die ihr von ihrer Erfahrung diktiert wird, nicht akzeptieren; aber sie muss erkennen, dass Warmherzigkeit, Offenheit, fröhliche Menschenliebe und ein klarer und vorurteilsfreier Blick sich nicht vererben lassen wie materieller Besitz.
Konventionell denkende Menschen können mit der Leidenschaft, dem Schmerz und der Trauer,die sie durchlebt und durchleidet, nichts anfangen. Sie fühlen sich dadurch belästigt.
Aber was hat sie denn erwartet? Dass man sie aufnimmt in die Gemeinschaft der Trauernden, ihr gar einen Platz zuweist? Ihr, die sie dieser gut situierten, wohlanständigen bürgerlichen Familie allein durch ihr Dasein den Spiegel vorhält, die Wohlfeilheit bürgerlicher Tugenden demonstriert?
Es tut weh, sehr weh. Die einzigen Menschen, mit denen sie ihre Trauer teilen könnte, verweigern ihr den Zutritt in ihr Leben. Diese Tür ist nun zu. Von beiden Seiten. Für immer.
Was ihr bleibt, sind die Erinnerungen und die zynische Erkenntnis, dass in dieser Welt alles seinen Preis hat - auch die Liebe.
Pixit in Aprilis MMXVIII– in memoriam K.W..
Was bleibt ? - Eine Bestandsaufnahme
von Almuth Wessel
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Kommentare
Ein Text, der Leben in sich birgt -
Gerade deshalb menschlich wirkt ...
LG Axel