Die Nachricht kam – wie alle Hiobsbotschaften – plötzlich und unerwartet.
Die ehemalige Klassensprecherin verschickte sie per Rundmail: B.K. war plötzlich gestorben – vermutlich an den Folgen einer nicht erkannten Hepatitis.
Es war weniger die Trauer um diese Frau, die ihr naheging, als die Tatsache, dass die Verstorbene die erste aus ihrer ehemaligen Schulklasse war, die starb.
„Das erste Mal, dass jemand aus meiner Generation stirbt, die ich persönlich gekannt habe...“ dachte sie – und :“wenn wir das erste Mal vom Tod eines Bekannten aus unserer Generation hören, dann wissen wir, dass nichts mehr zwischen dem Tod und uns steht.“
Sie fragte sich, was sie mit der Verstorbenen verbunden hatte - abgesehen davon, dass sieKlassenkameradinnen waren - und sie stellte fest: da war nicht viel:
In ihrer Schulzeit hatte sie B.K. bewundert – diesen vorlauten Teenager mit der großen Klappe, die nie um eine Antwort verlegen war
. War es, weil B.K. sich Sachen getraute zu tun und zu sagen, die SIE sich niemals getraut hätte?
War es, weil B.K. irgendwann einmal im Unterricht gesagt hatte: „Ich liebe das Leben...“ ? - etwas, was SIE nie gewagt hätte zu sagen, denn SIE hatte seit dem Tod ihres Vaters Angst vor dem Leben..
Und Eltern... das waren nach ihrer persönlichen Erfahrung Leute, denen man lieber nicht allzu sehr vertrauen sollte – sei es, weil sie plötzlich starben und einen allein ließen – oder weil sie , so wie ihre Mutter, Dinge, die sie ihr voller Vertrauen erzählt hatte, irgendwann gegen sie verwendeten...
B.K. hatte solche Probleme offensichtlich nicht – ihre Mutter las ihr, so schien es, jeden Wunsch von den Augen ab und ordnete sich den Wünschen ihrer Tochter widerspruchslos unter.
Sie erinnerte sich noch lebhaft an die Empörung einer Lehrerin,, als B.K. während des Unterrichts ins Schulsekretariat ging, um ihre Mutter anzurufen. Draußen ging gerade ein heftiger Platzregen nieder und B.K. erklärte der Lehrerin schnippisch:“Ich habe meine Mutter angerufen und ihr gesagt, sie soll mich abholen. Ich habe nämlich keinen Schirm.“
Dieses Verhalten fand die Lehrerin „unverschämt“ - und sie gab ihrem Missfallen deutlich Ausdruck. Denn: "Man " ging nicht einfach so ins Schulsekretariat und schon gar nicht während des Unterrichts! Dorthin ging man nur, wenn man gerufen wurde, um sich wegen irgendeines Fehlverhaltens zu verantworten - aber einfach so, um das Schulsekretariat für das zu missbrauchen, was es ja wirklich ist: ein Dienstleistungsunternehmen - also NEIN! (das war Ende der 70er Jahre... )
Ein anderer, ebenfalls sehr plastischer Vorfall, ereignete sich auf der Klassenfahrt nach Berlin. Dorthin war ein recht attraktiver Mathematikdozent aus der örtlichen Uni übergesiedelt, der eine Zeitlang die Vertretung für den schwer erkrankten Fachlehrer übernommen hatte. Plötzlich erfreute sich der Mathematikunterricht einer sehr großen Beliebtheit, die allerdings mit dem Ausscheiden dieses Paradiesvogels aus dem Lehrerkollegium rapide nachließ. Natürlich kannten alle in der Klasse SEINE Berliner Adresse , er traf sich, als die Klasse in Berlin eingetrudelt war auch einmal mit dem Damenflor der ihn anhimmelnden Teenager in einem Berliner Café – aber Eine besuchte ihn zu hause und blieb bis tief in die Nacht verschollen und unerreichbar : B.K.
Bewundert und beneidet von den Mädchen aus ihrer Clique.
Sie selber gehörte nicht zu dieser Clique von Bewunderinnen, hatte keine engere persönliche Beziehung zu B.K. - auch nicht, als sie nach dem Abitur gemeinsam an der Uni im gleichen Anfänger-Seminar saßen.
Rein zufällig kam es in dieser Zeit zum ersten – und auch zum letzten Mal – zu einem ausführlicheren Gespräch : Sie saß gemeinsam mit B.K. in einem Café in der Innenstadt, beobachtete das obligatorische Verkehrschaos vor der Tür und hörte dem Monolog von B.K. zu, die berichtete, dass sie vor wenigen Tagen ihrem langjährigen Freund den den Laufpass gegeben hätte:
„Der Gedanke, dass das jetzt alles so weitergeht... und dass wir dann irgendwann mal heiraten und Kinderchen haben werden... das fand ich auf einmal so grässlich, dass ich nur gedacht habe: nichts wie weg!“ SIE hörte sich das an mit einer Mischung aus Erstaunen und Unverständnis. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie man einem Mann, der einen so viele Jahre begleitet hat,so plötzlich den Stuhl vor die Tür setzen kann - aus purer Langeweile. Sie selber sehnte sich verzweifelt nach jemandem, der ein bisschen Verlässlichkeit und Kontinuität in ihr Leben bringen könnte.
Warum B.K. ausgerechnet IHR diese Geschichte anvertraute, war ihr ein Rätsel. Sie hatten einander nie nahe gestanden - wahrscheinlich saß sie jetzt nur deswegen mit ihr in diesem Café, weil B.K.jemanden zum Reden brauchte und von ihrer Clique niemand greifbar war. Zufällig war SIE greifbar und stand als Zuhörerin zur Verfügung. Eigentlich war SIE gar nicht gemeint... sie war nur gerade da und stand zur Verfügung – das war alles.
Auch in der Folgezeit beschränkte sich der Kontakt zu B.K. auf ein flüchtiges „hallo“. SIE versuchte, mit den ganz neuen Gegebenheiten an der Uni zurecht zu kommen, tat sich schwer mit den Spielchen des Bluffens und Geblufft-Werdens und den Kommunikationsstrukturen in den Seminaren, die in erster Linie darauf abzielten, sich vor dem Seminarleiter in Szene zu setzen. Sie war tatsächlich als Erstsemester mit der naiven Auffassung in die Seminare gegangen, dass es dort darum gehe, etwas zu LERNEN. Dass das Lernen wenn überhaupt in einem ganz anderen Umfeld stattfand, begriff sie zuerst nicht – und das gewollt coole Auftreten ihrer Mitstudenten und Mitstudentinnen hatte sie, die in ihren letzten Schuljahren im Deutschunterricht brilliert hatte, verunsichert und mundtot gemacht. B.K. fand sich dagegen sehr schnell in diese Kommunikationsstrukturen und erzählte beim ersten Klassentreffen nach dem Abitur den anderen mit einem süffisanten Grinsen, sie, die Chronistin, sei immer „auffallend still“.
Auch das war nicht dazu angetan, ihre Beziehung zu B.K. zu verbessern.
In späteren Jahren begegneten sie und B.K. sich nur noch sporadisch – irgendwann hörte sie, B.K. sei nach Berlin gezogen – und damit geriet sie endgültig außer Sicht. Ein bisschen Klatsch und Tratsch erreichte sie noch – so erfuhr sie von einer Affäre, die B.K. als Lehrerin mit einem Schüler ihrer Abschlussklasse gehabt haben sollte – und auf einem Klassentreffen, das einige Jahre später stattfand, tauchte B.K. überraschend auf und erzählte, sie habe „ihren jugendlichen Liebhaber geheiratet.“
Als sie sich dann – verhältnismäßig früh –aus diesem Treffen verabschiedete, zerrissen sich die Hinterbliebenen das Maul darüber, wie „spitz und ungesund“ B.K. ausgesehen habe. Sie selber beteiligte sich nicht an diesem Gespräch – sie vermutete bei etlichen ihrer ehemaligen Klassenkameradinnen den Neid der Besitzlosen.
Auch bei den sporadischen Treffen in den folgenden Jahren war die Kommunikation zwischen B.K. und ihr geprägt von schnodderiger Herablassung, demonstrativem Nicht-Erstnehmen und einer mehr oder minder unverhüllten Respektlosigkeit von seiten B.K. und vorsichtiger Distanz von ihrer Seite.
Als sie nun die Nachricht vom plötzlichen Tod dieser ehemaligen Klassenkameradin erhielt, fragte sie sich, ob sie die Verstorbene überhaupt gekannt hatte? Wer war B.K.? Sie wusste es nicht. Selbstverständlich beteiligte sie sich mit einem Obolos an dem Gesteck für die Trauerfeier - aber sie fuhr nicht nach Berlin, um der Verstorbenen das letzte Geleit zu geben.
Sie schrieb ihrer ehemaligen Klassensprecherin von ihrem inneren Zwiespalt. Eine Antwort auf dieses Schreiben hat sie niemals bekommen...