Nach der Rückkehr von einer Gruppenreise wollte ich mein Fahrrad abholen, das ich sicher auf dem Hof eines Supermarktparkplatzes wähnte. In meiner Erinnerung hatte ich es dort an einem etwas versteckten Platz abgestellt, es abschlossen, mit guten Gedanken bedacht und dann beruhigt in München zurückgelassen.
Als ich wieder zurückgekehrt war, durchkämmte ich, noch recht gelassen, den Hinterhof der Kühbachstraße auf der Suche nach meinem Drahtesel. Nichts. Mir wurde flau im Magen. Jetzt würde ich die weite Distanz von der U-Bahn-Station zu meiner Wohnung per Pedes zurücklegen müssen, der Wocheneinkauf ein Marathon. Das Leben eine Aneinanderreihung von Verlusten und Katastrophen. Fatalismus befiel mich. Ich zählte nach, wie viele Räder mir in München schon geklaut worden waren.
Doch so schnell wollte ich nicht aufgeben. In den folgenden Wochen fragte ich die Hausmeister der umgebenden Wohnungen, ob sie ein relativ hochwertiges Damenrad mit Fliegenpilzklingel gesehen hätten. Ich rief beim Fundamt an, bei der Polizei. Ich fragte im Supermarkt. Immer wieder suchte ich den Hinterhof ab.
Inzwischen hatte ich von Freunden ein Rad überlassen bekommen, einen klapprigen Bock mit überdimensionalem Fahrradschloss. Ich hasste es, so wie ich mein Rad zuvor geliebt hatte. Es war nun richtig fies novembrig geworden, kalt, nass, düster. Eines Abends kam ich aus der Stadt an der Haltestelle „Untersbergstraße“ an und wollte missmutig mein Ersatzrad besteigen. Ich fand es nicht. Es war dunkel und bei Nacht sahen alle Fahrräder grau aus. Ja, so war es, das sogenannte Leben – ein ewiger beschissener Novemberabend in Obergiesing, einer der schrägsten, unbewohnbarsten und hassenswertesten Wohngegenden unserer Landeshauptstadt. Rachsucht stieg in mir auf und wollte sich am liebsten eines der nahe stehenden Räder bedienen.
Dann verspürte ich einen vagen Impuls. Mehr tastend als sehend überquerte ich die Straße. Ich scannte die Lenkstangen der dort geparkten Räder ab und sah plötzlich einen roten Fliegenpilz in der Dunkelheit leuchten. „Ach, da hat sich jemand dieselbe Fahrradklingel gekauft wie ich“, dachte ich traurig. Der rote Fleck zog mich an. Ich ging näher heran - und stand vor meinem Fahrrad, das da abgeschlossen und wohlbehalten vor mir stand. Jetzt fiel es mir ein, dass ich am Morgen vor unserem Urlaub vier Wochen zuvor einen meiner Mitreisenden rausgeklingelt und das Rad dann entgegen meiner Gewohnheit am anderen als sonst üblichen U-Bahn-Ausgang abgestellt hatte.
Ich stieg auf mein Stahlross, fühlte den vertrauten weichen Sattel unter mir, und es fand, gemächlich trabend den Weg nach Hause von alleine. Mir schien, dass es leise wieherte, als ich es abschloss. Ich war angekommen. In der Realität.
Entstanden 2011
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Kommentare
Schöne Geschichte, liebe Angelika, die ich sehr gern gelesen habe - dank Deiner sehr guten Schreibe.
Liebe Grüße,
Annelie
Deine Art zu schreiben ist sehr ansprechend, liebe Angelika.
Von Anfang bis Ende fließt der Text sehr angenehm, weder übertrieben, noch langweilig, Spannung aufbauend, in einer nachvollziehbaren Erlebniswelt, mit hohem Identifikations - Charakter. Sehr schön!
Und der letzte Satz, den finde ich am Besten, quasi die Kirsche auf dem Sahnehäubchen.
Liebe Grüße,
Ella
Der Leser fährt da mit - quasi im Kindersitz!
(Und das war keineswegs ein Witz!)
LG Axel