Der nicht mehr beschrittene, der
umgangene Thymianteppich.
Eine Leerzeile, quer
durch die Glockenheide gelegt.
Nichts in den Windbruch getragen.
Wieder Begegnungen mit
vereinzelten Worten wie:
Steinschlag, Hartgräser, Zeit.
(Paul Celan, „Sommerbericht")
Mathilde – und eine Nacht im Schweinestall
Mathilde ist von uns geflogen, für immer, liebe Christine, und keinesfalls aus freien Stücken. Ich hatte es in meinem gestrigen Brief an dich bereits angedeutet. Ein persönlicher Abschied hätte mir vermutlich das Herz gebrochen. Deshalb vermied ich am frühen Vormittag beflissentlich, auch nur annnähernd in die Umgebung des Schweinestalls zu geraten. Hannes hatte mich auf seine charmante Art bereits vorgewarnt, wie du ebenfalls durch meinen letzten Brief erfahren haben solltest. Ich wollte eine Traueranzeige in die Lübecker Nachrichten setzen lassen, aber Mutti weigerte sich strikt, das nötige Geld dafür rauszurücken. Meine Ersparnisse sind bis auf einen lächerlichen Notgroschen dahingeschmolzen, weil ich mir kurz vor den Ferien ein neues Fahrrad gekauft habe, das ich dann doch nicht mit nach Lachau nehmen durfte. Begründung: Lenis Vehikel reiche fürs Lachauer Landleben voll und ganz aus.
Die gute Mathilde war eine echte Französin, eine Normand-Sau, wie dir sicherlich noch in Erinnerung ist. Knut hielt uns ja in den vorletzten Sommerferien einen langen Vortrag über diese aparte Gattung.
Die Verbreitung der deutschen Landrasse habe fast zum Aussterben ihrer Sippe geführt, geruhte sich Leni im Nachhinein meine Kenntnisse aufzufrischen, als ob das arme Tier dadurch wieder lebendig würde. Über zwei Kilo soll Mathilde bei ihrer Geburt gewogen haben, ein Gewicht, das sie drei Wochen später vervierfacht hatte. Die Haut unter ihren kräftigen Borsten wurde mit der Zeit immer heller, aber am herzigsten waren ihre rosigen Schlappohren, die über den winzigen Äuglein hingen. Sie war so zutraulich und lieb und alles andere als eine „Buchtenhockerin“. Am liebsten trieb sie sich draußen herum. Wäre sie auch noch des Kletterns kundig gewesen, hätte sie gewiss die alte Eiche erklommen, und nichts und niemand hätte sie von dort oben herniederlocken können – außer vielleicht der Hunger. So verwegen war die gute Mathilde!
Als ich am Vormittag über den Hof schlenderte, es mag so gegen zwölf gewesen sein (Oma hatte taktvollerweise das Radio auf volle Pulle gestellt, damit wir das erbarmungswürdige, verzweifelte Quieken der Todgeweihten vor der hinterhältigen Bluttat nicht hören mussten), hing Mathildes fettfahler Leib kopfüber und aufgeschlitzt an den Hinterläufen im Schatten der seitlichen Stallmauer – am untersten der kurzen Balken, die bis an das Hühnerhaus reichten: ein erbarmungswürdiges Bild, das selbst den fischblütigen Diogenes zum Weinen gebracht hätte. Ihr einst so rosiger Körper war blutleer und demzufolge bleich wie die Haut des Schneewittchens; sie war viel weißer noch als zu ihren Lebenzeiten und unnatürlich glatt. Die dünnen Adern schimmerten tintenblau hindurch. Auf dem bauchigen Kopfsteinplaster vor dem Stall perlten dünne, glänzende Rinnsale aus Blut und Wasser, die gemächlich im grauen Sand versickerten. Ein eigenartig süßlicher Geruch, der Fliegen und Mücken angelockt hatte, hing noch schwer in der Luft.
Wie lange soll Mathilde hier noch hängen, dachte ich empört. Bald wird ihr armer Körper total ausgedörrt sein. Vielleicht umso besser, dann schmeckt sie später keinem mehr.
„Es ging ganz schnell, Katja“, hatte Heiner behauptet, der immer noch seine blutverschmierte Gummi-Schürze trug, die ihm bis über dem großen Zeh hing. Mathildes einst so kräftiger Lebenssaft war bereits darauf eingetrocknet.
„Bald kann ich Mathildchen abschrubben. Dann dampft sie, als würde sie noch leben. Ach ja, die armen Tiere merken, wenn es soweit ist“, fuhr Heiner ungeachtet meiner entsetzten Blicke fort. „Als Hannes ihr ins Öhrchen flüsterte: ,Jetzt geht es in den Himmel, Mathildchen', hat sie sich kaum noch gesträubt.“
„Ach, Hannes war auch dabei?“, fragte ich spitz,. „Na, dann konnte ja nichts mehr schiefgehen. Kommt ja nicht auf die Idee, mir irgendwelche Körperteile von Mathilde anzubieten.“
Verstohlen ließ ich meinen Blick über die Holzbank schweifen, die über und über mit Mathildes Blut besudelt war.
Ich hätte das arme Tier am liebsten beerdigt und wurde den Eindruck nicht los, dass der Ausdruck „Kannibalismus“ diesem Schlacht-Spektakel viel näher kam, als er vergleichsweise bei Hühnern angebracht wäre, die sich durch Federpicken traktierten.
„Helge ist wieder da“, berichtete Heiner eifrig, ohne auf meine letzte Bemerkung einzugehen.
„Nun sag bloß noch, dass er die Melkmaschine repariert hat“, stichelte ich.
„Woher weißt du das, Katja?“, fragte Heiner mit einer Stimme, wie sie argloser nicht sein konnte. Ich zog es vor den Hof zu verlassen, bevor mir Mathildes Kadaver Tränen in die Augen trieb.
Aus den Augenwinkeln sah ich gerade noch, wie sich Oskar mit einem Spaten Pferdeäpfel vom Hof entfernte und den Dung in eine verrostete Tonne neben der Pferdekoppel warf. Vor der weit geöffneten Tür des Ackerstalls parkte ein bis zum Rand mit Gras beladener Holzwagen.
Erst gegen Abend traute ich mich in die Waschküche. Die Gnädigste stand vor dem Waschzuber, quetschte Därme aus und füllte sie mit Leberbrei oder ähnlichem Zeug. Leni schnitt mit einem riesigen Messer Mathildens entseelten, unschuldigen Leib in kleine Portionen, und Gudrun drehte sie durch einen Fleischwolf.
Dann hat der Beckumer Tierarzt Mathildes rosigen Leib wohl schon freigegeben, dachte ich wehmütig. Das ging ja rasend schnell.
„Das muss man sich nur einmal vorstellen!“, ereiferte sich die Gnädigste. „Fast zehntausend Liter Milch im Jahr! Damals haben sie uns den Lebensmittelprüfer auf den Hals gehetzt, mitten im Hochsommer.“ Sie lachte ungläubig, als könne sie ihren eigenen Worten nicht trauen. „Weiß der Kuckuck, welche Politik hinter dieser blödsinnigen Maßnahme steckte! Ausgerechnet damals, bei dieser Affenhitze, in der sich die Kolibakterien rasanter vermehrten als Karnickel. Wisst ihr noch? Auf dem Waldauer Gut wurde die Milchlieferung für Monate gestoppt, einfach verboten. Das hätte uns damals auch passieren können.“
Leni und Gudrun nickten ergeben. „So, den Rest schafft ihr auch alleine, meine Lieben. Ich muss mich jetzt mal um die Erbsen kümmern. Und Leeeeniii: Wir verzichten auf Schlachtesuppe zum Abendessen. Wichtig ist, dass das Mett und die Würste fertig werden. Und gib diesmal bitte Acht, dass das Wasser nicht kocht. Die Würste dürfen auf keinen Fall platzen. Und denk bitte an das Pökelfleisch und dass die Kühlkammer gereinigt wird.“
„Jaa-aa-aa-aa, Frau Brandner“, gab Leni genervt zur Antwort,
während die Gnädigste ihre hohe Stirn runzelte (selbst auf Lachau scheint nicht immer nur die Sonne).
„Übrigens, Frau Brandner, Axel sagt, wir hätten Mäuse im Pferdestall. Die Viecher schnappen unseren Gäulen das ganze Futter weg“, ließ Leni wie aus heiterem Himmel verlauten.
Das musste ja kommen, liebe Christine. Ich habe die gute Leni schon längst im Verdacht, dass sie danach trachtet, der Gutsherrin Schmerzen zuzufügen, sobald sie sich von ihr getadelt fühlt.
„Ach du lieber Gott,“ seufzte die Gnädigste, allerdings keineswegs so erschüttert, wie Leni es sich offenbar erhofft hatte, eher leicht belustigt, mit einer winzigen Prise Ironie.
„Unsere Pferde werden ohnehin derart uferlos mit Hafer gemästet, dass man befürchten könnte, sie stünden kurz vor dem Ausbruch einer Magen- und Darmkolik. Es wundert mich, dass sie sich überhaupt noch bewegen lassen. Denk bitte auch an das Juli-Fallobst, Leni. – Ach, hallo, Katja, du kommst wie gerufen. Du könntest mir bei den Erbsen helfen! Die Wäscheschränke müssten auch mal wieder ausgewischt werden (Seitenblick auf Leni), und unser Tafelsilber ist fast so stumpf wie ich mir die Äxte wünsche, die just in diesem Moment zugunsten von Ferienwohnungen und Massentourismus in irgendeinem Wäldchen auf dieser Erde geschwungen werden.“ –
Was die Gnädigste unter einem Wäldchen versteht, ist uns allen mittlerweile bekannt, liebe Christine: ein blaugrünes Meer von Bäumen aller Art – mit den Ausmaßen der Taiga, genauer gesagt, ein gigantisches Waldvorkommen mit all seiner Herrlichkeit und Düsternis.
Als es dämmerte, wünschte ich meiner Verwandtschaft, die schläfrig vor dem Fernseher hing, eine ruhige und mit schönen Träumen gesegnete Nacht und schlich mich nach draußen. Die Verandatür war zum Glück noch nicht abgeschlossen. Ich hatte mir vorgenommen, die Nacht im Freien zu verbringen, weil ich immer noch nicht wagte, meine Kammer zu betreten, in welcher ich Helge nach wie vor im Kleiderschrank wähnte, obwohl Heiner ihn offenbar bereits zu Gesicht bekommen hatte.