Die sommerlichen Wochen sind vergangen:
Ein flüchtiger Rausch, Ferien mit sehr viel Herzklopfen …
In unserer karg bemessenen Sprache
Schwingt bereits ein Hauch mit, der nach Abschied klingt:
Die Jugend ist vorbei – für immer. Das war 's, wispert es
An allen Ecken und Enden ...
Mag sein, denke ich, doch ich bin wie eine,
Die keinen Schwur mehr bricht
Und werde euch wiedersehen.
Tausend Sommer später …:
Die zarten Töne unserer Jugend
Sind reiferen Farben gewichen.
Aber unser Erinnerungsvermögen ist gnädig – noch;
Es trägt uns dorthin, wo wir glücklich waren.
Nun, da die Stunde des Sterbens näherrückt,
Fragen wir uns: Wer weiß, ob nicht der Tod ein
Leichteres Leben für uns bereithält?!
(„Abschied nehmen“; Anne Li)
Gesucht und gefunden ...
(Das letzte Wort hat Christine)
Als ich hinter den beiden Glastüren im Ankunftsbereich des Flughafens stand, um Katja abzuholen, klopfte mir das Herz bis zum Hals – als erwarte ich Hannes aus irgendeinem mysteriösen Jenseits.
Ich war dem Rat unserer jungen Pastorin tatsächlich gefolgt und hatte eine Fülle von Recherchen angestellt, um Katjas Aufenthaltsort ausfindig zu machen; aber weder das Internet noch diverse Telefonanrufe und Mails, mit denen ich verschiedene Behörden in Australien bombardierte, brachten mich ans Ziel. Schließlich wandte ich mich an Konny – und er bescherte mir endlich den heiß ersehnten Erfolg.
Ein Rinderzüchterverein in Blackwater verzeichnete in seinen Unterlagen nach wie vor den Namen des ehemaligen „Ranchers Axel Kröger“, der vor vier Jahren an Herzversagen verstorben sei, und gab Konny dessen letzten Wohnsitz bekannt. Er erhielt per Mail einen Auszug aus jenem Verzeichnis, darin die Eheleute Axel und Katja Kröger als Rancher samt Wohnsitz und ungefährer Anzahl ihrer Rinder eingetragen waren. Katja, so glaubte ich fest, habe die Ranch bei Blackwater nach Axels Ableben weitergeführt; aber das stellte sich als Irrtum heraus. Wie Konny wenig später erfuhr, blieb sie nur noch wenige Monate auf der Farm – nämlich so lange, bis sie einen geeigneten Pächter für den Betrieb gefunden hatte. Als dies bereits nach sechs Wochen der Fall war, ließ sie sich in Sydney nieder, um Kinder- und Jugendbücher für einen dort ansässigen Verlag zu schreiben, dem sie vor längerer Zeit ein Manuskript zugesandt hatte.
Kora, Konny und ich waren überglücklich, Katja gefunden zu haben, und ich nahm umgehend Kontakt mit ihr auf.
Gleich nach unserem ersten Telefonat war mir zumute, als hätten Katja und ich uns niemals getrennt, als habe unser letzter Sommer, der überschattet war von Eifersüchteleien und Missgunst, niemals stattgefunden.
Ich hatte mich in jenem letzten Sommer auf Lachau Hals über Kopf in Hannes verliebt, der Katja nicht aufgeben wollte und seinem Vater, der sie mit nach Australien nehmen wollte, aus dem Weg ging, wo immer er konnte. Die beiden wechselten kein Wort mehr miteinander, obwohl Katja unermüdlich zwischen den beiden zu vermitteln versuchte, allerdings ohne den geringsten Erfolg.
Am besten ging es damals unserer Leni. Sie freute sich wie ein Kind auf den fremden Kontinent und noch um ein Vielfaches mehr darüber, dass Katja und Kröger ihr eine neue Heimat zum Geschenk machen wollten, in der sie nach wie vor gebraucht würde; denn Katja hatte ihr zu verstehen gegeben, dass sie dem Ruf Australiens nur dann folgen würde, wenn sie, Leni, sich dazu bereiterklären würde, mit ihr und Hannes' Vater, der weniger begeistert von Katjas Wunsch zu sein schien, auszuwandern und ihnen den Haushalt zu führen, bis sie nicht mehr könne oder wolle. Wir aber freuten uns mit Leni, denn sie hatte einen schönen Lebensabend verdient.
Katja verbrachte in diesen Ferien auf Lachau sehr viel Zeit mit Kröger und half ihm bei der Feldarbeit. Obwohl Lars Petersen ein fleißiger Knecht war, gab es auf Lachau mehr als genug zu tun. Dem Gut ging es finanziell besser als jemals zuvor.
Während der gemeinsamen Arbeit kamen sich Katja und Kröger näher, und Katja schien mehr und mehr davon überzeugt zu sein, dass eine gemeinsame Zukunft in Australien das Glück ihres Lebens sei, obwohl ihre Eltern noch immer nicht die geringste Ahnung hatten, was sich zwischen den beiden abspielte. Kröger und Katja verstanden sich nämlich von Tag zu Tag besser.
„Mein Alter spinnt“, ließ Hannes oft verlauten. „Er ist über dreißig und Katja blutjung. Das kann nicht gutgehen.
Die Gnädigste hatte in einem ihrer letzten Wochenendurlaube, die sie sich zweimal im Jahr zu leisten traute, einen Weinbergbesitzer kennengelernt und plante, zu ihm an die Mosel zu ziehen, sobald Kröger seinen Australientraum wahrzumachen gedachte. Aber Katja sollte erst das Abitur ablegen. So lange wollte er noch warten, anderenfalls hätten ihre Eltern ganz gewiss Schwierigkeiten gemacht.
Nach und nach gewöhnte sich Hannes an den Gedanken, dass sein Vater es ernst meinte mit seinen Auswanderungsplänen. Der Sommer war lang und es geschah eine ganze Menge … an die Ferien im Jahr zuvor jedoch, die geprägt waren von der Aufklärung des Mordes an Knut Knudsen, der Katja und Hannes in höchstem Maße beschäftigt hatte, reichte er an Aufregung nicht annähernd heran, aber Katja und Hannes schienen mehr als nur froh darüber zu sein.
Katja, die deutlich „zahmer“ geworden war, bekamen wir kaum noch zu Gesicht. Ihre Mutter hatte sie in diesen letzten Ferien allein aufs Gut reisen lassen; aber ob das der Grund war, weshalb sie sich besser als jemals zuvor mit ihrer Großmutter verstand, wage ich nicht zu behaupten. Jedenfalls freundete Hannes sich im Laufe der Wochen mit mir an, und schon bald wurde uns klar, dass auch wir unser Leben gemeinsam verbringen wollten. Hannes hatte sich in den Kopf gesetzt, Ingenieur zu werden, während ich Biologie und Physik auf Lehramt studieren wollte. Und obgleich ich wusste, dass uns lange Trennungszeiten bevorstünden, war ich felsenfest davon überzeugt, dass Hannes und ich für immer zusammenbleiben würden. Ich hatte mich nicht getäuscht.
***
Ich erkannte Katja bereits von Weitem – genauso, wie ich auch immer ihre Handschrift aus tausend anderen herausfinden würde. Sie trug Jeans und eine schlichte weiße Bluse und hatte sich kaum verändert, höchstens, dass sie noch ein wenig schmaler geworden war. Das graue Haar fiel glatt auf ihre Schultern – und wäre es gefärbt gewesen, hätte man sie gut und gern fünfundzwanzig Jahre jünger schätzen können. Aber das war wohl nicht ihr Ding. Sie hatte noch nie gern bei Friseuren herumgesessen.
Wir sanken uns in die Arme und Katja sagte: „Gut, dass Du allein gekommen bist; die ,Restclique' hätte ich nach diesem Mammut-Non-Stop-Flug kaum ertragen können, ohne binnen kurzer Zeit in einen Dornröschenschlaf zu fallen."
„Die ,Restclique' kommt am Sonntag zum Kaffeetrinken“, klärte ich sie auf. „Und jetzt rate mal, wer noch dabei sein wird …?“
„Keine Ahnung“, grinste Katja. „Vielleicht der Schlagzeuger, dem Kora am Kiesteich damals schöne Augen gemacht hat, Kai, oder wie war noch gleich sein Name …? Das war doch jener Sommer, in dem du es vorgezogen hast, die Ferien im Krankenhaus zu verbringen. Da hast du wirklich eine Menge versäumt, Christine. Allein meine Fehden mit Oma Anita wären es wert gewesen werden, diese kostbare Zeit auf Lachau zu verbringen.“
„Nein, nicht Kai, der Schlagzeuger, aus der Sache ist nichts geworden“, griente ich zurück, „aber Tante Selma wird die Geschwister begleiten. Die Gute ist zwar uralt, aber fit wie ein Turnschuh.“
„Oh, das freut mich sehr“, sagte Katja. „Tom, der gute Hund, ist wohl längst gestorben?“
„Leider“, erwiderte ich. „Tante Selma hat das Tier sehr geliebt, obwohl sie ständig auf ihn geschimpft hat.“
„Wurde es noch schlimmer mit ihm oder endlich besser?“, erkundigte sich Katja lächelnd.
„Wenn Du wüsstest“, klärte ich sie auf. „Bevor er starb, hat er noch vier Briefträger ins Bein gebissen und in sämtlichen Geschäften rund um Lübeck Hausverbot erteilt bekommen.“
Wir stiegen lachend ins Taxi, das uns zu meiner Wohnung in der Innenstadt bringen sollte. Ich hatte meinen Führerschein längst abgegeben.
Dem stressigen Großstadtverkehr fühlte ich mich einfach nicht mehr gewachsen, zumal ich während meiner Zeit mit Hannes nur selten hinterm Steuer gesessen hatte.
*
„Leni ist friedlich in unseren Armen gestorben“, gab Katja Konny zu verstehen, als er sich am Sonntag bei Kaffee und Kuchen nach der treuen Haushälterin erkundigte. „Sie wurde 96 Jahre alt. Fast bis zuletzt hat sie sich allein um unseren Küchenplan gekümmert. Erst als sie 90 wurde, war sie damit einverstanden, dass wir ihr eine Hilfe zur Seite stellten: Jane, eine Frau in den Siebzigern, mit der sie sich gut verstand. Aber am heftigsten hat sie anfangs wohl Oma Anita vermisst, obwohl sich die beiden häufig in der Wolle hatten, meistens ja während der Sommerferien und wegen mir. Wir haben in Australien noch oft darüber gelacht.“
„Wie ist sie denn mit Hannes' Vater, meinem Onkel Axel, zurechtgekommen?“, erkundigte sich Kora.
„Oh, du wirst es nicht glauben, Kora, aber Axel und Leni wurden schon nach drei Jahren auf der Ranch ein Herz und eine Seele", sagte Katja.
„Das lag wohl hauptsächlich daran, dass ihr Kaffee besser geworden ist, andernfalls hätte Kröger sie doch zum Teufel gejagt“, grinste Konny.
„Falsch, lieber Konny“, lachte Katja. „Darauf habe ich es in weiser Voraussicht gar nicht erst ankommen lassen. Kaffee habe ich ihm immer gekocht. Davon war Leni aus gutem Grund befreit.“
Wir saßen noch bis tief in die Nacht hinein und tauschten Erinnerungen. Es wurde ein schöner Abend. Und als Kora beim Abschied sagte: „Hoffentlich sehen wir uns noch öfter, Katja. Es gibt so viele Dinge, über die wir noch nicht gesprochen haben. Du bleibst doch noch ein paar Wochen?“
„Ein paar Wochen …?“ Katja zog ihre Augenbrauen in die Höhe. „Ich hoffe doch, dass ich noch zwei, drei Jahrzehnte bleibe, auf dieser Erde – und hier, ganz in eurer Nähe. Ich habe meine Zelte in Australien abgebrochen. Was sollte ich dort noch ohne ,meinen Herrn Kröger' anfangen? Ich lasse seinen Sarg nach Deutschland überführen. Dann können wir meinen Mann, euren Onkel und deinen lieben Bruder, Tante Selma, besuchen und beweinen. Das wird mich zwar Axels und meine letzten Ersparnisse kosten, aber ich vertraue darauf, dass ihr euch darüber freut!?"
Wir waren sprachlos … Damit hatte niemand von uns gerechnet. Tante Selma erhob sich mühsam aus meinem Ohrensessel und nahm Katja in den Arm. „Die Überraschung ist dir gelungen, min Deern“, brachte sie, zu Tränen gerührt, mühsam über die Lippen. „Damit machst du mir wirklich eine große Freude. Ach, wenn unser Hannes das doch noch miterleben könnte!“
Wir unternahmen noch eine Menge in jenem Sommer, der Katja, mich und die Clique samt Tante Selma wieder zusammengeführt hatte. Konny kutschierte uns durch halb Deutschland. Uns war zumute, als seien die Städte, Dörfer, Flüsse und Berge unseres Heimatlandes noch schöner geworden seit jenem Sonntag im Juli, an dem unsere langjährige Freundschaft ihren Höhepunkt fand.
So verbrachten wir auf unsere alten Tage noch glückliche Zeiten. Und wenn wir nicht gestorben sind, dann leben wir noch heute!
E n d e
Lieben Dank an alle LeserInnen fürs Lesen und Liken. Lieben Dank auch an Axel C. Englert ... für dessen zuverlässiges, promptes und hervorragendes Lektorat.
Tausend Grüße, Anne Li!
Kommentare
Der Schluss ist nicht das Ende, sondern der Anfang von Deinem Buch, liebe Annelie, dafür schicke ich Dir viele gute Wünsche!!!
Herzlich, Monika
Liebe Monika, Dein Kommentar erfreut mich ganz ungemein. Dann hat sich die Arbeit schon mal gelohnt. Vielen lieben Dank. Es wäre schön, würden noch eventuelle Leser, Nachzügler, auf den Anfang gespannt (der ja hier zu bekommen ist), nachdem sie das Ende gelesen haben.
Liebe Grüße und tausend Dank,
Annelie
Das war, ist, bleibt ein guter Text,
Der stark und schön uns Leben hext!
Danke, dass Du dies geschrieben -
Ein solches Buch sollte man lieben!
LG Axel
Dank, lieber Axel, Dir, für Deinen Kommentar:
Dein Lob erfreut mich sehr, fürwahr.
Ohne Dein gutes Lektorat, das Gegenlesen,
wär die Geschichte fader wohl gewesen.
LG Annelie
Auch die letzte Illustration - wunderschön, bin sehr gespannt auf Dein Buch, damit ich das Ganze noch einmal in einem Rutsch lesen - und genießen kann, liebe Annelie.
Liebe Grüße - Marie
Liebe Marie, danke für Deinen lobenden, lieben Kommentar. Es dauert noch ein wenig, bis das Buch gedruckt ist. Ich muss es erst noch einmal auf Unstimmigkeiten überprüfen, dann ausdrucken, Axel wirft auch noch einen letzten Blick drauf: dann drucke ich das Manuskript aus, kopiere es für Verlage - möglicherweise finde ich ja einen, ansonsten werde ich es selber verlegen. Schade wäre es, wenn es nicht illustriert würde, weil ich viele gute Zeichnungen dazu gesammelt habe. Aber zuerst kommen meine Gedichte dran. Ja, ich habe wirklich eine Menge zu tun; aber das tut mir wiederum auch gut.
Liebe Wochenendgrüße zu Dir,
Annelie