Ins Herz gebrannt … (letzter Teil)

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Es war nach wie vor Sommer, ein sehr milder Spätsommer, und doch befanden wir uns bereits im Herbst, genauer gesagt, im „Deutschen Herbst“, als wir nach Ostberlin aufbrachen. „Deutscher Herbst“ deshalb, weil jene Zeit geprägt war von den terroristischen Anschlägen der RAF.
Welchen Grenzübergang wir damals wählten, will mir nicht mehr in den Sinn; es könnte die Bornholmer Straße zwischen Wedding und Prenzlauer Berg gewesen sein. Ich kann nicht sagen, dass dieser Grenzübertritt eine angenehme Sache war. Die kontrollierenden Herren waren ja noch einigermaßen freundlich und ließen hin und wieder Humor aufblitzen, die Damen hingegen … Verbissener ging es nun wirklich nicht. Ihren Gesichtern nach zu urteilen, waren wir ihre ärgsten Feinde. Auch ein Lächeln meinerseits änderte nichts an der verheerenden Situation. Sogar das Kind wurde gefilzt; wir hatten es zwar darauf vorbereitet, aber es zog ein ungläubiges Gesicht und schien nicht zu wissen, ob es lachen oder weinen sollte. Das blonde Pfirsichkind mit den braunen Kulleraugen dermaßen verdattert zu sehen, versöhnte mich mit den fast hasserfüllt blitzenden Augen der rabiaten Filzerinnen.

Die Straßen in Ostberlin waren menschenleer, und der eher trübe Tag, den wir uns ausgesucht hatten, ließ den Sektor noch öder erscheinen, als er sich ohnehin präsentierte. Ich hatte mir Ostberlin anders vorgestellt – mit einem Flair Westberlins, das wie ein Fetzen Morgenrot um die Häuser zöge. Die rote Farbe diverser Spruchbänder („im engen Bruderbund mit der Sowjet-Union, in der Gemeinsamkeit ...“ etc), um mehr oder weniger sich im Verfall befindlicher Gebäude geschlungen, war das einzig Bunte, das ins Auge fiel. Ins Herz brannte sich mir die Gestalt einer älteren Frau, verhärmt, leicht gebeugt und grau in grau gekleidet, eine große Einkaufstasche mit sich schleppend; ihr Gesicht war eher mürrisch als traurig, und ich fragte mich, was wir eigentlich in Ostberlin wollten. Das Elend sehen? Unsere Landsleute besichtigen wie Tiere, die in Käfigen hockten? Nein, auf gar keinen Fall! Es war eine dumme Idee gewesen, nach Ostberlin zu fahren, befand ich im Nachhinein, und nur aus diesem Grund bat ich darum, augenblicklich nach Westberlin zurückzukehren.

Später bummelten wir den Ku'damm runter; der Kontrast hätte nicht größer sein können; aber in Ostberlin war es viel leiser gewesen und die Gedanken drangen klarer ins Bewusstsein.

Wir kauften jeden Morgen mehrere Zeitungen, um im Entführungsfall Schleyer auf dem Laufenden zu sein. Sobald wir unsere Besichtigungstouren beendet und unsere Ferienwohnung erklommen hatten, stellten wir das Fernsehgerät an. Ins Herz brannten sich mir all jene Fotos, darauf Hanns Martin Schleyer während seiner Entführung zu sehen war, Papptafeln mit den Daten seines Martyriums um den Hals. Er soll zeitweilig in einem schallgedämpften Wandschrank untergebracht worden sein.

Das Kind wollte nicht allein spielen und schlug vor, Hanns Martin Schleyer endlich zu befreien, damit wir wieder Zeit hätten, uns dem Vorlesen (mein Part) und dem Bau von Steinpalästen aus Legos (mein Antipart) zu widmen.
Wir dachten eine Weile scharf nach, bevor wir aufgaben: Herr Schleyer wurde auf dem Weg zu seiner Dienstwohnung in Köln-Braunsfeld entführt. Die Entführer würden es nicht gewagt haben, längere Zeit mit ihm herumzukutschieren, ergo hielten sie ihr Opfer in Köln oder dessen näherer Umgebung gefangen. Wir erklärten dem Kind, dass es unter Umständen Wochen dauern könne, bis wir den Arbeitgeberpräsidenten und die gemeinen Terroristen aufgestöbert hätten, lenkten jedoch ein und stellten um zur „Sendung mit der Maus“.

Bei Helmut Schmidt, damaliger Bundeskanzler, stießen die Kidnapper mit ihrer Forderung nach Freilassung führender RAF-Mitglieder aus der Haft auf taube Ohren. Schmidt wusste, dass die RAF, wie nach dem Fall des Peter Lorenz, ehemaliger Landesvorsitzender der Berliner CDU, geschehen, weitermorden würde. Aus diesem Grund entschied er, nicht auf die Forderung der Terroristen einzugehen.

Am 18. Oktober 1977, wir befanden uns bereits wieder zu Hause in unserer Wohnung in Nordfriesland, erfuhren wir, dass Hanns Martin Schleyer mit drei Kopfschüssen hingerichtet worden war – unmittelbar nachdem Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe sich in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart infolge der Erstürmung des in Somalia gekidnappten Passagierflugzeugs "Landshut" und der Befreiung von 86 Geiseln durch Beamte einer Grenzschutztruppe das Leben genommen hatten.
Wären die Kölner Behörden dem zum Versteck führenden Hinweis eines Polizisten nachgegangen, hätte Hanns Martin Schleyer nicht geopfert werden müssen.

Ich dachte noch lange über die Entführung Schleyers nach: Eine bessere Lösung wäre möglicherweise gewesen, gleich nach Bekanntgabe der Auflagen für die Freilassung des Opfers auf die Forderungen der RAF einzugehen (zumindest zum Schein), um sich nach erfolgtem „Austausch“ (H. M. Schleyer – Terroristen ) mit einem Polizeiaufgebot sondergleichen auf die freigelassenen RAF-Mitglieder zu konzentrieren. Aber dagegen sprach, dass es während einer Verfolgung der Täter weit mehr Opfer hätte geben können, denn die RAF wäre nicht davor zurückgeschreckt, sich gnadenlos freie Bahn zu verschaffen.

Wir besichtigten während der nächsten Tage noch den Reichstag, und das Kind und ich posierten für ein flottes Foto auf dem riesigen Bismarckdenkmal, das in diesem Moment an meinem Bildschirm lehnt (das Foto, versteht sich): Eine Bronzeskulptur von Max Klein, fast fünf Meter hoch, und wir, Winzling der stolz auf dem hohen Sockel hockt nebst kleiner schmaler Frau auf der Treppe darunter, einen gelben „Friesennerz“ auf den Knien.

Dieser Urlaub war zwar der aufregendste meines Lebens, jedoch gewiss nicht allein im positiven Sinne, und dass ich diesen Umstand ausgerechnet der RAF zu verdanken habe, behagt mir keineswegs. Dafür habe ich viel zu sehr um das Leben des Opfers gebangt, wenngleich ich es nicht persönlich kannte.

Das nachfolgende Foto ist von mir skizziert nach einem alten Zeitungsartikel mit Bild, gescannt und digital coloriert worden.

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