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schon lange nicht mehr gesehen.“
„Weshalb sollte mein Vater nicht auch mal fröhlich sein? Verdient hat er es,“ gab Hannes zur Antwort.
*
„Du, Katja, dieser Rock“, raunte Hannes mir zu, kaum, dass wir außer Hörweite waren. „Den hättest du gerne anbehalten können.“
„Der Rock ist ,im Eimer'“, sagte ich streng. Hannes zuckte erschrocken zurück und sah in die Eimer, die an der Lenkstange seines Fahrrads baumelten.
„Da doch nicht, du Dummerchen“, lachte ich. „Kaputto, capito?“
„Klaro“, sagte Hannes und grinste.
„Was genau ist passiert, Katja?“
„Helge“ – , sagte ich und machte eine bedeutungsvolle Pause.
„Und?“, fragte Hannes ungeduldig. „Er ist auf Hundertachtzig! Total von der Rolle! Säuft und raucht!“ Ich schilderte ihm den Zwischenfall auf dem Korridor bis ins kleinste Detail.
„Wenn er nichts mit Knuts Tod zu tun hätte, wäre er mit dem Erpressserbrief zur Polizei gegangen. Hundertpro. Wärst du doch auch, Katja? Oder?“ Hannes sah mich erwartungsvoll an.
„Auf der Stelle“, sagte ich. „Das lässt sich kein Unschuldiger gefallen. Jetzt wird es Zeit für die nächste Nachricht. Wann und wo er das Geld hinterlegen soll und so.“
„Heute wollen wir erstmal zum Angeln“, sagte Hannes und begann zu pfeifen: „Flieger, grüß mir die Sonne ...“, ein Lied, das Hans Albers oft gesungen hat.
Konny und Kora warteten unter einer Linde auf der Grasnarbe neben der schmalen, gewundenen Dorfstraße, die an jenem Tag im Schatten der duftenden Apfelbäume am Wegrain lag.
„Na, genug geschmust?“, rief uns Kora entgegen.
„Von wegen. Soweit kommt es noch“, wehrte ich ab.
„Ja? Wann denn endlich, Katja?“, fragte Hannes und wechselt abrupt den Schlager. „Sag mir quando, sag mir wann ...“, pfiff er vergnügt vor sich hin und warf mir dabei glühende Blicke zu.
Kora kicherte. „... sag mir quando, quando, quando“, trällerte sie.
„Ich finde es richtig affig, dass ihr Geheimnisse vor uns habt“, schimpfte Konny.
„Du wirst mir noch einmal dankbar dafür sein, lieber Konny“, tat sich Hannes wichtig und deklamierte feierlich: „Es gibt nämlich nicht nur gute und schöne Geheimnisse, sondern auch äußerst bösartige, etwa in der Art, wie Leni sich heute mir gegenüber benommen hat.“ Er tat so, als liefe ihm ein Schauer über den Rücken.
„Zu uns war Leni vorhin richtig nett, stimmt's Konny?“, triumphierte Kora. Konny gab keine Antwort. –
„Ich finde es jedenfalls richtig gemein, dass ihr immer so tut, als wären wir kleine Kinder“, blieb er beim Thema. „Dabei sind wir gerade mal ein knappes Jahr auseinander.“
„Kora ist jedenfalls anderthalb Jahre jünger als ich, wenn ich mich nicht irre, lieber Konny. Solltest ausgerechnet du dich verrechnet haben, du Mathegenie?“
„Ach, hör doch auf, Hannes“, sagte Konny. „Mit dir kann man kein ernstes Wort wechseln.“
Nun sei doch nicht so schwarzgallig, alter Junge“, grinste Hannes. „Ach übrigens, seid ihr das gewesen?“ Er deutete mit gespielt kummervoller Miene auf die abgeernteten Erdbeerfelder rechts und links, die auch jetzt noch einen leichten Duft von köstlichen reifen Früchten verströmten.
„Nein, aber d a s warst du, Hannes“, parierte Kora und wies auf einen Stachelbeerstrauch, der aussah, als hätten ihn die Ziegen zerfressen.
Erst jetzt fiel mir Konnys überladenes Fahrrad ins Auge. Hannes hatte ihm nicht nur drei Angelruten und den Eimer mit den ekligen Naturködern, sondern auch noch einen Picknickkorb und ein Paar überknielange Gummistiefel aufgebürdet. Oder sollte ich, aus Hannes Sicht, besser „anvertraut“ formulieren, liebe Christine?
Die Schäfte der Stiefel ragten aus dem Rucksack, den Konny auf seinem Rücken trug, symmetrisch hinter beiden Ohren empor und verliehen ihm ein "gewisses Etwas", ein im höchsten Maße prähistorisches Aussehen. Hannes Fahrrad hingegen funkelte blankgeputzt und solitär in der Sonne. Es war fast so leer wie ein Pausenhof während der Schulstunden.
„Was beförderst du eigentlich, Hannes?“, fragte ich empört.
„Mich und zwei Eimer“, sagte er schlicht und warf sich stolz in die Brust. „Ist das etwa nicht genug?“ Kora, deren Fahrrad von keinerlei Frachtgut entstellt war, lachte schadenfroh.
„Und womit soll ich angeln“, fragte ich trotzig. „Ihr habt doch nur drei Angelruten mit und ich möchte einen kleinen Aal.“
„Kriegst du doch auch, Katja“, versicherte Hannes eifrig. „Da, wo wir hinfahren, gibt es massenhaft Aale.“
„Das muss ja das reinste Paradies sein“, spottete ich. „Was es da nicht alles geben soll: Karpfen, Aale und und und ...“
„Wirst schon sehen“, sagte Hannes.
„Und womit soll ich nun angeln?“, wiederholte ich meine Frage, müde und dösig von der Mittagshitze.
Statt eine Antwort zu geben, packte Hannes mit einem Mal meinen Arm und zog mich weit auf die Grasnarbe hinaus. Um ein Haar wären wir in einem der kleinen Gräben gelandet, die fast vollständig von kniehohem Unkraut verdeckt wurden.
„Was soll das?“, schrie ich.
„Sag mal, schläfst du?“ Hannes deutete auf einen hellblauen VW Käfer, der hinter einer dicken Staubwolke um die nächste Kurve bog.
„Ist der besoffen?“, fragte Konny. „Der hätte euch beide um ein Haar umgenietet.“
„In einem solchen Affenzahn über die Dörfer zu rasen, Idiot“, schimpfte Kora.
„Wartet mal“, sagte ich nachdenklich. „Das könnte Helge gewesen sein. Der fährt doch einen hellblauen VW?!“
„Wo will der denn hin“, dachte Konny laut. „Mitten in der Heumahd.“
„Heumahd“, spöttelte Hannes. „Unser pflichtbewusster kleiner Konny.“
„Hört endlich auf. Ich kann dieses dämliche Geplänkel nicht mehr hören“, schrie Kora plötzlich. Es hörte sich ziemlich hysterisch an.
„Ja“, pflichtete ich ihr bei. „Daraus entwickelt sich nur wieder Streit.“
„Fahren wir weiter“, sagte Hannes mit tonloser Stimme. „Ich habe einen Schmachter auf Fisch.“
„Schade, dass wir kein Boot haben“, seufzte Konny.
„Ah, Konny will Hemingway spielen: ,Der alte Mann und ...'“, begann Hannes und biss sich auf die Lippen, als ich mich zu ihm umwandte und ihm einen finsteren Blick zuwarf.
„Woher kennt eine Pfeife wie du es bist, Hannes, Hemingway?“, fragte Konny.
„Ha, ha“, lachte Hannes. „Hannes Hemingway. Das wäre das Größte.“
„Pah“, sagte Konny. „Du kennst doch noch nicht mal die deutsche Grammatik.“
„Schluss jetzt, ihr Idioten“, schrie Kora. „Falls ihr nicht sofort damit aufhört, fahre ich auf der Stelle nach Hause.“
„Dann bekommt Katja eben deine Angel“, sagte Hannes gleichmütig.
„... und kann sich ihren Aal selber fangen“, ergänzte Konny. Beide lachten.
„Katja, hast du Lust, mit zwei Bekloppten zum Angeln zu fahren?“, fragte Kora, nachdem sie vom Fahrrad abgestiegen