Habitus

Bild von poemix
Bibliothek

Die Hände tief in den ausgebeulten Taschen seiner Jeans vergraben, steht Alejandro an Paco's Bar. Hinter ihm das geöffnete Ausgabefenster, an welchem der schwungvoll tänzelnde Kellner die ausgegebenen Bestellungen entgegen nimmt, flink an die Tische fortbringt.
Sommer in Südspanien. Jetzt, in den angenehmen Abendstunden, an der Plaza de la Constitucion, steht er wieder – wie an jedem Abend. Die gewohnte eigenartige Gestalt.
Nahezu angewurzelt, schräg ins Leben gestellt, wie Ringelnatz es damals von sich selbst behauptete. Der Protagonist eines sepiafarbenen Standbildes. Erinnerung aus alten Zeiten, ein Bild, wabernd in der Hitze, gefangen im Augenblick des andalusischen Abends.
Die Körperhaltung, leicht gekrümmt. Das Gesicht die Silhouette einer beeindruckenden Nase präsentierend. Ein Zinken, der entfesselten Fäusten feucht fröhlicher Nächte mehrfach unterlegen war, daher demoliert ausschaut.
Sein Blick streicht über die Tapas und Tortillas schmatzenden Touristen, die sich laut unterhalten. Fröhlich gestikulierende Einheimische, auch einige fremde Männer und Frauen. Ausgelassene braun gebrannte Gestalten. Lebhafter Tourismus, angelockt von der südländischen Süße dieses stolzen Dorfes – mit dem Namen des Stieres.
Da steht er schon wieder, als wäre er in der vergangenen Nacht gar nicht erst fort gegangen. Neben ihm auch heute sein treuer Kamerad. Beide Figuren stehen an diesem nicht zu unterschätzenden ehrwürdigen Platz, wo sich damals vermutlich, im Juli 1932, eine aufgebrachte Dorf- und Arbeiterschaft des Ortes versammelt hatte. Diese Plaza ist auch heute ein Ort der Zusammenkunft. Ein Platz der Hungrigen, der verschwitzten, durstigen laut durcheinander redenden ausgelassen trinkenden und essenden Fraktion der Fremden.
Aus ganz Europa kommen die Menschen daher. Die Sonne trocknet sie aus, brennt ihnen auf der Haut, macht die Gelenke beweglich, lähmt die denkenden Hirne des urlaubenden Volkes. Die Sinne und Gelüste frei. Durstig, lebenshungrig, das Glück weit greifend, großräumig, unkompliziert.
Die Vergangenheit der früheren Großväter und Väter scheint heute keinen mehr zu interessieren.
An einem Tisch sitzen mehrere Engländer mit ihren Frauen. Lautes betrunkenes Geschrei, exaltierte Bewegungsabläufe, verlutschte Intonation. Witze, die man sich im Club erzählt.
Einer – mit gezwirbeltem spanischen Knebelbart macht soeben den Kellner fertig.
„Ich lasse hier verdammt noch eins so viel Geld und werde nicht gut bedient. Ich warte schon Äonen hier auf mein fucking Beer.“
Der Kellner ist flink. Bemüht sich, lächelt, mäandert mit seinem Tablett elegant durch die Tischreihen. Er ist eine Art Choreograph. Dafür wird er bewundert, geliebt, mit Trinkgeld bedacht. Der Engländer ist griesgrämig, ungerecht – postkolonialistisches Auftreten. Ein Scheißtyp, sinniert der Barbesitzer, der die Allüren des feisten aber arglos konsumierenden Briten kennt.
Alejandro wirkt wie Luky Luke. Der hätte es den Faschisten vielleicht gezeigt, damals. Er wäre schnell gewesen. Schneller noch als die Unterdrückerdaumen und Finger an den Abzügen der maroden Waffen, zügiger als der eigene Schatten.
Großspurig, mit zögernd gemessenen Bewegungen fischt er sich jetzt eine Zigarette aus dem Päckchen. Schnippt die bläuliche Flamme aus der Düse heraus, brennt den Tabak an. Die Glut leuchtet rot und hell auf, frisst sich in das Stäbchen hinein, leise knisternd, gierig.
Manche Männer – sie sind noch sehr jung – haben keine- oder eine schlecht bezahlte Arbeit.
Das erinnert allenfalls an die damaligen Schicksale der Väter und Großväter, die oftmals hungern mussten.
Der schmächtige Kerl dort, der immer am Fenster steht und deutsches Bier trinkt, hat gegenwärtig keinen Job. Er wohnt mit seiner alten hinfälligen Mutter in einer recht bescheidenen putzbröckelnden Wohnung ganz unten im Dorf. Da, wo die Markthalle ist, mit den ranzigen Mülltonnen davor.
Alejandro steht da an der Bar, mit einer grünen Bierflasche in der Hand. So wie ein Westernheld. Sehr cool, breitbeinig, noch unter vierzig, ohne segensreiche Schulbildung, mit einem prüfend schweifenden Blick.
Zieh, so zieh doch endlich deinen Revolver.
Luky Luke zieht aber nicht. Er greift in seine Hosentasche. Gekonnt befördert er ein Feuerzeug ans Licht, schnippt eine gemessene Flamme heraus, gibt der hübschen blondierten Spanierin neben sich Feuer. Seine Augäpfel prüfen die junge Lady. Sein Scharfblick stolpert furchtlos und frech wandernd über die weiblichen Konturen der jungen Frau. Sie nickt kurz, wendet sich zu ihren Freunden ab, wo sie mit schriller Stimme, mit rasendem Sprechtempo wieder in das Thema von eben zurück gleitet. Was der Mann mit dem Feuerzeug hier offenbar observiert, weiß keiner. Allenfalls ist der zu klein und zu dick geratene Freund, der nicht von seiner Seite weicht, darüber aufgeklärt. Schon möglich, er ist beeindruckt von Alejandros Körperhaltung, von seinen Bewegungsabläufen, die sich aber irgendwie nicht zu einem wahren großkotzigen Kerl, der den Habitus eines Helden, eines coolen Jungen demonstriert, fügen wollen.
Eine unklare Schwermut, die subtile Art der Lächerlichkeit, die ihn umgibt, dieses zersprungene Bild eines intuitiv Theater spielenden Mannes erzeugt etwas Asynchrones. Dieses ahnen gegebenenfalls die Menschen, die bereit sind, ein paar Minuten ihres aufgewühlten Daseins darauf zu verwenden, den Mann verstehen zu wollen. Die seine großspurig anmutende seelisch/körperlich gegeneinander spielende Erscheinung zu ergründen wünschen.
Den meisten Mitbewohnern erscheint Alejandro völlig unauffällig. Er ist so wie er ist. Ein Mann, der an der Bar steht, raucht, trinkt, redet, Feuer gibt.
Er spricht zu seinem Freund, der an Sancho Panza erinnern mag. „Otra cerveza, amigo mío?“
Der Dicke nickt steif und fettig, greift zu. Becks Bier – aus Bremen. „Saludos mi amigo!“
Alejandro kennt hier jeder. Er spricht im Laufe eines Abends, bist es kühler, nächtlich angenehm geworden ist, quasi mit vielen Leuten. Von den meisten Männern erntet er Akzeptanz.
Die Frauen sind amüsiert aber nicht interessiert. Von zwei drei Spaniern wird er nicht ernst genommen. Sie nehmen ihn nicht wahr. Er verkörpert etwas, was sie verunsichert, verwirrt, zeitweise nervt. Gelegentlich ist er – als komische Figur – der Held des Abends. Bei den spanischen Frauen hinterlässt er einen durchaus liebenswerten, aber nicht bis zum nächsten Morgen währenden nachhaltigen mannhaften Eindruck. Sie nehmen ihn nicht zu sich mit nach Hause.
Ihnen entzieht sich eine kleine Tatsache. Nämlich, wie cool, wie unbegreiflich skurril und lässig dieser junge Mann auf wachsame – aber naive Touristen wirken kann.
Alejandro ist an schlechten Tagen missgestimmt oder bekümmert, weil eine Ahnung in ihm erwacht ist. Die Vermutung über die Unvollkommenheit seines von elementaren Sehnsüchten geprägten Lebens. Da hilft ihm immer öfter das Bier einer norddeutschen Stadt. Diese kühle Erkenntnis aus den grünen deutschen Flaschen. Das Leben hängt dem Mann wie ein zerschlissenes Heldentuch an Körper und Seele. Angetrunken fühlt er sich beachtet, wertvoll, geschätzt. Wenn er sich selbst dann Flasche um Flasche vergisst, fühlt er sich gut, cool, angenommen, wichtig.
Sein Großvater war übrigens ein wirklicher Held im Spanischen Bürgerkrieg. Für kurze Zeit nur. Ein zu betrauernden Kämpfer, der über sein Heldenstück nicht mehr nachdenken konnte – Kopfschuss.
Sein Vater, ein katalonischer Taugenichts, gedankenloser Don Juan und Trinker. Lieber wäre Alejandro ein lebenskräftiger Großvater an seiner Seite gewesen, als ein rostiger Siegesstern hinter stumpfem Glas im windschiefen Holzrahmen. Dort, auf der Anrichte, wo die Familienbilder stehen.
Wie gerne hätte er zu einem wahrhaftiger Vater aufgeschaut, der mit ihm vielleicht in die Stierkampfarena nach Malaga gegangen wäre, statt in einer dunklen Posada betrunken über dem Tisch zu hängen. Für seine kranke Mutter, die er seit Jahren pflegt – als wäre es das Natürlichste von der Welt – ist Alejandro so etwas wie ein Held. Ein Held, dem nur der Krieg, der in ihm selbst tobt, etwas anhaben kann. Das ahnt die alte Frau. Mag sein, so eine Art Ritter der traurigen Gestalt ist er.
Don Quijote immerhin, war ein Held – zwar mit Papphelm – aber ein Held. Mit einer ungebrochenen reinen Seele im Leib, einem starken Herz in der Brust, welches für eherne Grundsätze schlug.
Was wissen schon die anderen auf der Plaza? denkt Alejandro. Sie wissen gar nichts!
Wenn er spät heimkehrt, angetrunken, umnebelt, den Ort einer verschollenen Heiterkeit nicht wieder findend, streicht er seiner kranken alten Mutter zärtlich über die kalte nasse Stirn.
Er drückt dann lange ihre Hand. Manchmal fragt er sich ganz unvermittelt – und die Frage scheint aus einer anderen Welt zu ihm hinüber zu wehen – was all die grünen Flaschen aus Deutschland wohl sagen würden, wenn ihnen ein Mund zum Sprechen gewachsen wäre.

b.w.r.

Kommentare

01. Nov 2019

Sehr gerne gelesen !
HG Olaf