6 Lebenssplitter
Spindkontrolle
Was so militärisch klingt, war täglich im Bereich des Möglichen bei mir zuhause. Was das Ganze so schrecklich machte für mich, war, dass ich immer schon im Voraus wusste: Wenn ich in den Fokus meiner Mutter geriet, würde das schmerzhaft enden.
Schmerzhaft konnte aber auch bedeuten, dass ich zwar körperlich unversehrt blieb, aber andere Sanktionen zum Tragen kamen.
Beliebt war, mich mit Verachtung – oder gar mit Missachtung – zu strafen. Das war etwas anderes, als wenn ich unbeachtet davonkam (wahrscheinlich rührt mein lebenslanger Wunsch, mich möglichst unsichtbar zu machen, daher).
Missachtung war ein aktiver Vorgang. Er ging von zusammengekniffenen Augen und Lippen über heruntergezogene Mundwinkel, wenn man meiner – bemüht nicht – ansichtig wurde, über gezischte Beleidigungen unter der Gürtellinie und „unabsichtliche“ Rempeleien bis hin zu ausgefuchsten Quälereien. Immer in dem vermittelten Bewusstsein, dass ich nirgendwo, bei niemandem in der Familie, Rückhalt bekommen würde, das bräuchte ich nicht einmal zu DENKEN (wenn ich denn zu einer solchen Intelligenzbekundung überhaupt in der Lage sei).
Die Spindkontrolle gehörte mit zum Perfidesten, was man sich Schutzbefohlenen gegenüber ausdenken konnte. Muss ich erwähnen, dass all dies stets nur mich betraf?
Ich konnte nie sicher sein, wenn ich mich schlafen legte, dass ich auch tatsächlich bis zum nächsten Morgen ungestört durchschlafen konnte. Meine Mutter musste immer warten, bis ich im ersten Schlummer lag. Dann kam sie herein, machte die Deckenbeleuchtung an, öffnete den Kleiderschrank auf der Seite, auf der die Fächer waren und zog am untersten Stück der dort aufgestapelten Kleidungsstücke. So landete der gesamte Stapel ungeordnet auf dem Boden.
Das nächste auf dem Programm war, mich tobend aufzuwecken, was das denn wieder für eine Schweinerei sei, die sie da im Schrank vorgefunden habe, alles durcheinander, sie habe nur am untersten Stück ziehen müssen, schon sei der gesamte Stapel ihr entgegengekommen.
Schlaftrunken, wie ich war, musste ich dann aufstehen, in ihrem drohend-schimpfenden Beisein alles wieder feinsäuberlich zusammenlegen und auf Stoß einsortieren. Schließlich habe ich als „Große“ ja Vorbildfunktion und wie könnten es die „Kleinen“ lernen, wenn nicht durch mein Beispiel.
Andere Varianten waren, mich aufzuwecken mit der Frage, ob ich meine Hausaufgaben gemacht habe. Auch zur Beantwortung dieser Frage musste ich erst komplett aus dem Schlaf auftauchen, wie auch bei der geforderten Tätigkeit, aus dem Schlaf heraus meinen Tagesschlüpfer unbedingt sofort auszuwaschen.
Ich erinnere mich noch an einmal, als ich mit Schlafsand in den Augen mein Spiegelbild angähnte, fertig gewaschen und gekämmt, Zähne geputzt, bereit zu frühstücken und in die Schule zu gehen, schließlich war ich ja geweckt worden, als es an die Badtür wummerte, was zum Teufel ich da denn um Mitternacht mache, wo alle anderen vernünftigen Leute schlafen wollten.
Da waren mir die Schläge fast schon lieber, die kannte ich, die konnte ich einordnen, auf die konnte ich mich einstellen und die kamen selten ohne Vorankündigung. Sie kamen mit mathematischer Präzision und dies im wahrsten Sinne des Wortes.
Wenn ich meine Oma Thea besucht hatte, die Frau, deren Liebe ich verdanken darf, noch "hier" zu sein - da bin ich mir sicher - und ich kam etwas später als zu der festgelegten Zeit nach Hause, wurde ich schon in der Wohnungstür mit eiskaltem Blick empfangen. Der Zutritt zur Wohnung wurde mir erst gewährt, nachdem ein Blick auf die Armbanduhr die Rechengrundlage geliefert hatte: 5 Minuten = 1 Ohrfeige. Waren es 15 Minuten Verspätung, wappnete ich mich gegen 3 Ohrfeigen. Und die ließen mich von einer Seite des schmalen Flurs zur anderen fliegen. Aber sie kamen eben nicht unberechenbar aus „heiterem" Himmel.
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