Ein Apfel ist nicht nur ein Apfel

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von Willi Grigor

Es war eine ruhige, kurze Zeit - verglichen mit der langen, mörderischen Zeit davor - in der das Leben, das überlebte, sich langsam erholte.
Ich war noch zu jung, um mich an die mörderische Zeit zu erinnern. Meine ersten Erinnerungen erzählten mir mein Leben lang, wie schön und gut ich es hatte in dem Bauerndorf Segringen in Bayern, in dem wir im Mai 1945 freundlich aufgenommen wurden. Ich verstand nicht, wie schwer es war in den ersten Jahren der ruhigen Zeit für die Eltern und den anderen Flüchtlingen im Dorf, den Lebensunterhalt zu meistern.
*
Ein roter Apfel
vom Baume fiel
und bis zum Rand
der Wiese rollte,
wo ein Kind froh spielte.

Das Flüchtlingskind
mit großen Augen
auf diesen Apfel schielte.
Es wusste, was es wollte,
nicht, ob es durfte, sollte.

Der Bauer sah es
von seinem Fenster,
ging lächelnd zu dem Buben:
"Mei Bua, du darfstn fei essen."
Ich habe es ihm nie vergessen.
*
Als ich fünf Jahre alt war, durfte ich den Sommer über beim "Sesslerbauer" - ein liebes Ehepaar mit einer Tochter - ein und aus gehen. Ich wurde so etwas wie ein Sohn, den es nicht hatte.
Im Sommer darauf wurde ich zum Kuhhirten "befördert". Nach der Schule ging ich stolz mit meinen vier oder fünf Kühen durch das Dorf zu der Weide. Die Zeit mit meinen Kühen auf der von Wald umrahmten Wiese habe ich in glücklicher Erinnerung. Die Einsamkeit, die Stille dort hat mich geprägt.
Aber ich war überall dabei. Der Bauer nahm mich mit auf seine Felder, wo er mit der Sense Gras mähte oder Getreide. Die Kühe waren nicht nur Milchlieferanten, sondern auch die Antriebe für seine Wagen. Der Traktor kam erst später. Zur Erntezeit durfte ich dabei sein, es gab immer kleine Aufgaben, die ich als junger Bub gerne machte, z. B. Kartoffelkäfer sammeln, die der Bauer dann in einer Dose verbrannte. Er zeigte mir auch, wie man einem Huhn den Kopf abhackt - ich habe es selbst einmal getan. Der Kopf fiel ab und der Rest rannte durch den Garten bis er in einer Hecke ausblutete. Die Bäuerin machte daraus eine gute Mahlzeit.
Ich war mit dem Bauer, wenn er im Herbst die Äcker düngte. Er pumpte die Jauche aus einem Brunnen unter dem Misthaufen vor dem Stall.
Und ich war natürlich dabei, wenn die Bäuerin oder die Tochter am späten Nachmittag zum Abendbrot rief.

Am 13. November 1951 heiratete die Tochter, Elsa Zerrer, ihren Fritz Popp. Zusammen mit einem Mädchen aus der Verwandtschaft streute ich weiße Blumen auf dem Weg zur Kirche des Dorfes. Auf dem Hochzeitsfoto sitze ich auf den Knien des Brautvaters. Ich fühlte mich, als wäre ich ein Enkelkind des Sesslerbauers Karl Zerrer. (Bisher hatte ich noch keinen Opa. Einer ist im Krieg verschollen, der andere wohnte in Norddeutschland.)

Einige Wochen später verließen wir das Bauerndorf Segringen - aber die Erinnerungen an meine schöne Kindheit verließen mich nie.
Das Leben ging weiter - in das von Ruinen noch stark gezeichnete Düsseldorf.
*
Ich reise so gern in verschwundene Zeiten,
Gedanken führ'n mich zurück.
Ich lass mich von ihnen bedingungslos leiten,
sie kennen die Wege zum Glück.

Ich sehe im Zeitglas die kindlichen Freuden,
sie zeigen sich überall.
Ich atme den Duft meiner grünenden Weiden,
den Dunst warmer Kühe im Stall.

Ich fühle es deutlich, im nun hohen Alter,
das was ich damals erlebt.
Ich spüre den Windhauch der fliegenden Falter
so stark, dass das Herz in mir bebt.

Ich denke an Segringen, den "Sesslerbauer",
an seine Tochter, die Frau.
Ich denke, dass "nichts auf der Welt ist von Dauer",
und freu mich, wenn rückwärts ich schau.
**
Diese Einleitung war notwendig, ich kann sie nicht überspringen, wenn ich über das Dorf meiner glücklichen Kindheit spreche, schreibe.

Nun aber zur versprochenen Apfelgeschichte:

Im Obstgarten des Sesslerbauern wuchsen natürlich viele Äpfel. Diese wurden kaum gegessen, eher getrunken - als Most mit geringem Alkoholgehalt.
Ich, ein Junge, der immer hungrig war, aß sie aber gerne, obwohl sie ziemlich sauer waren.
Dieser Überfluss an Äpfel ging zu Ende, als unsere Familie zu Weihnachten 1951 nach Düsseldorf zog. Dort hatte der Vater eine Arbeit und eine Wohnung bekommen, was natürlich ein wichtiger Fortschritt war.
Für mich aber waren die ersten Jahre in der Großstadt, die noch voll von Ruinen war, meine ersten schlechten Jahre. Zu stark war der Kontrast zwischen gestern und heute, einem stillen Dorf und einer wachsenden Stadt.
Der Lebensunterhalt für sechs Personen wurde eher schwieriger nach dem Umzug. Des Vaters Lohn konnte sich am Anfang nicht immer gegen die Wohnungsmiete, Lebensmittel und sonstigen Ausgaben behaupten. Trotz Überstunden reichte der Lohn des Vaters manchmal nicht.
Äpfel waren in dieser Zeit eine Luxusware.
Ich vermisste die kostenlosen, sauren Äpfel in Segringen.

Aber es wurde langsam besser.
Wir sahen das erste permanent geparkte Auto auf unserer Straße. Es gehörte unserem Nachbar im vierten Stock, nach nicht so langer Zeit zog er in eine andere - wohl bessere - Gegend.
Und meine Eltern kauften uns ab und zu Äpfel und andere Früchte. (Ich bekam sogar ein Fahrrad.) Meinen Apfel aß ich nicht auf einmal auf, ich hielt ihn gerne eine Zeit lang in meiner Hand, drehte ihn mit den Fingern, roch den Duft seiner Haut. Es war ein wohliges Gefühl, dieses lebende Lebensmittel, diese Luxusware "Apfel" in der Hand zu halten und zu wissen, dass ich es bald aufessen werde. Und als ich es dann tat, tat ich es sehr langsam - und zu 99,9 Prozent. Nur den Stiel warf ich weg.

Die Zeiten wurden noch besser.
Die zwei ältesten Geschwister fanden eine Ausbildung und einen Mann. Sie zogen in eine andere Stadt, die sie nicht mehr verlassen werden.
Ich begann eine Lehre und bekam 50 Mark jeden Monat. Ich konnte mir eigene Äpfel kaufen. Meine Gewohnheit den Apfel mit den Fingern der linken Hand möglichst lange zu drehen und zu streicheln, bevor ich ihn aß, habe ich aber beibehalten.
Im zweiten Lehrjahr gab mir der Arbeitgeber jeden Monat 100 Mark. Meine zwei besten Freunde waren im letzten Lehrjahr und hatten 100 Prozent mehr. Sie streichelten Mädchen, ich immer noch einen Apfel mit den Fingern der linken Hand. Manchmal konnte ich glauben, oder träumen, dass die aufgewärmte, glatte Haut des Apfels die warme Hand eines Mädchen ist, und die rötlichen Flecken die Lippen.

Mit dem Ende der Lehre - ich war jetzt Technischer Zeichner - stieg mein Einkommen auf 450 Mark im Monat. Aber es wurde umgehend noch besser:
Noch im gleichen Monat fuhr ich mit zwei erfahrenen Kollegen nach Hamburg betreffend eines Kraftwerkprojektes. Erste Klasse mit dem Zug. Spesen, die höher waren als das Gehalt. Wohnung bezahlt. Jeden Monat eine Heimfahrt, Freitag bis Montag, erste Klasse. Fast zwei Jahre lang - ich war reich (in dieser Zeit).

Was ich nicht bekam, war eine weiche Hand, die ich streicheln durfte.
*
Mein Hamburg hat mich in die Welt eingeführt,
dorthin wo das Leben pulsiert.
In Hamburg erst hab ich das Leben gespürt,
vor dem ich mich bisher geziert.

Mein Hamburg hat mir das Rauchen verboten,
ich habe es niemals bereut.
Doch Hamburg hat mir viel andres geboten,
das mich und mein Herz hat erfreut.

Mein Hamburg erst hat mich zum Manne gemacht,
mir gerne gezeigt, was es hat.
Ich lernte es lieben bei Tag und bei Nacht -
hab Dank, meine lehrreiche Stadt.

Mein Hamburg beim Abschied Gewissheit mir gab:
"Wohin dich das Leben auch schickt,
belohnt wird auch der mit dem Holzwanderstab,
wenn froh er vom Lebensbaum pflückt."
*
Nach Hamburg schickte man mich zu Siemens in Erlangen, wo ständig Kollegen aus Düsseldorf stationiert waren. Danach ging es zum Kernkraftwerk Biblis A, und nach einem Jahr wieder nach Erlangen. Zwischendurch immer für kurze Zeit nach Düsseldorf. Ich fand feste und vorübergehende Freunde - aber keine Hand, die in meine passte.

Ich wollte raus aus dem beruflichen Wanderzirkus. Ich schickte mich selbst zurück nach Düsseldorf, um Ingenieur zu werden. Ich wohnte wieder bei den Eltern und traf meine alten Freunde wieder. Diese streichelten mittlerweile die weiche Hand einer Frau, ich immer noch nur einen Apfel mit der linken Hand.
Das letzte Sommersemester (1969) wurde ein Streiksemester. Mein Arbeitgeber freute sich, schickte mich umgehend nach Rosenheim. Ein guter Kollege war bereits da, mit seiner Frau. Ich kannte die beiden schon von Erlangen. Sie hatten ein kleines Haus gemietet im kleinen aber feinen Krottenmühl am Simssee. Ich bekam ein Zimmer in einem Haus in ihrer Nähe.
Es war ein schöner Sommer. Am Tag konstruierten wir Rohrleitungen für ein Kraftwerk in Guatemala, am Wochenende vergnügten wir uns in Krottenmühl und am Simssee. Dennoch fühlte ich mich allein. Ich hätte gerne jemand an meiner Seite, so wie mein Kollege.

Nach einer vergnügten Feier in den Simssee-Stuben - kurz vor dem Ende unserer Zeit in Krottenmühl - begleitete mich eine nette Frau, deutlich älter als ich, zu ihrem einsamen zu Hause. Wir gingen im Dunkeln auf einem kleinen Weg zwischen Feld und Wald. Als wir ankamen war es hell. Wir setzten uns auf die Bank vor dem Haus und hatten ein gutes Gespräch. Sie streichelte meine Hand. Dann servierte sie Kaffee und Brötchen. Sie war eine liebe Frau. Sie träumte auch von einer Hand, die in ihre passt.
*
Von Krottenmühl nach Rosenheim,
spätnachmittags retour.
Es war ein halbes Jahr zwar nur,
doch schön ist das Gefühl:
Die kleine Ortschaft Krottenmühl
war einmal mein Daheim,
der Simssee war ein See nicht nur,
er war mein eig'nes Meer ...

Das Fischerstüberl-Seelokal
mit Badespaß und mehr...
Im Zug von Rosenheim zu ihm,
fuhr ich so manches Mal,
und freudig schwamm ich auf dem "Meer"
den Wolken hinterher.
Danach vom Strand zum Wiesenweg,
nach Hause, ging ich gern.
Noch heut denk ich, genauso froh,
an Krottenmühl von fern.
*
Zurück in Düsseldorf, zum letzten Semester. Es endete Anfang April. Der Arbeitgeber hatte schon eine Arbeit für mich, ein Projekt etwas weiter weg. Der Wanderzirkus ging weiter.
Zwei Tage später: Fahrt mit dem Zug nach Ravensburg, nahe Bodensee. Gutes Gehalt, Spesen, jeden Monat eine Heimfahrt Freitag bis Montag, Wohnung bezahlt. Aber anders als in Hamburg, war ich nicht froh. Ich wollte nicht mehr allein sein, keinen Apfel mehr in der Hand halten - er konnte mir nicht mehr helfen. Es war Mitte April 1970. Ich wäre gern nach Hause gefahren, wenn ich eins gehabt hätte.
Im Konstruktionsbüro traf ich einen Schweden, der auch für einige Zeit hier arbeitete, aber an einem anderen Projekt. Wir kamen ins Gespräch, wir verstanden uns, nicht nur sprachlich. Am 8. Mai trafen wir uns zu einem Bier in einer kleinen Kneipe. Beim dritten sagte er: "Danach muss ich gehn, ich habe eine Verabredung mit einer Arbeitskollegin in Schweden, die auch hier arbeitet. Sie wollte ein Jahr in Deutschland arbeiten, einen Teil des Landes sehen und deren Sprache besser lernen. Hier hat man ihr die Möglichkeit dazu gegeben. Übrigens, du kannst doch mitgehen, klar das machen wir." Das dritte Bier sagte: "Geh mitt!" Ich ging mit.

So fand ich sie endlich, die Frau, die mit mir gehen wollte, Hand in Hand.

In den Mittagspausen trafen wir uns, gingen spazieren und aßen Joghurt mit Erdbeeren, etwas, das man in Schweden noch nicht kannte. In "diesem Blumenmai", in diesem schönen Sommer 1970, in dem die Gefühle immer höher wuchsen, konnte ich endlich eine weiche Hand in meiner Hand spüren und ihre Wärme. Ich habe sie seitdem nicht mehr losgelassen.
*
Zwei, die sich durch Zufall trafen
und schon lang zusammen schlafen,
hören noch der Liebe Klingen
als sie durch die Felder gingen.
Damals in der Maienzeit.

Es war Verstehen ohne Sagen
und ein Wissen ohne Fragen.
Sie spürten ihre Herzen singen
und wie diese Feuer fingen.
Damals in der Maienzeit.

Heut spüren sie des Herbstes Wind,
mit dem sie gut befreundet sind.
Es tragen noch des Lebens Schwingen,
sie werden sie zum Ziele bringen.
Wie damals in der Maienzeit.
*
Die Art wie ich einen Apfel im Freien aß, habe ich nicht geändert. Seit 45 Jahren erinnert sie mich an die Zeit, da mir ein Apfel in meiner Hand das Warten auf eine Hand in meiner Hand mich traurig machen konnte. Der Sommer 1970 brachte die Wende.

Auf meinem abendlichen, einsamen Spaziergang ist meistens ein Apfel mit dabei. Ich halte ihn eine Weile in der linken Hand, drehe ihn mit den Fingern und spüre, rieche seine Haut. Dann esse ich ihn mit einem unsichtbaren Lächeln und sage mir, bevor die ständig wechselnden Gedanken eine ganz andere der nicht zählbaren Richtungen nehmen: "Ein Apfel ist nicht nur ein Apfel".

© Willi Grigor, 2021

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