Leutnant Gustl - Page 11

Bild zeigt Arthur Schnitzler
von Arthur Schnitzler

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Möcht' in die Kirche hineingeh'n... am End' ist doch was d'ran... – Na, heut' nach Tisch werd' ich's schon genau wissen... Ah, »nach Tisch« ist sehr gut!... Also, was ist, soll ich hineingeh'n? – Ich glaub', der Mama wär's ein Trost, wenn sie das wüßt'!... Die Klara gibt weniger d'rauf... Na, geh'n wir hinein – schaden kann's ja nicht!

Orgel – Gesang – hm! – Was ist denn das? – Mir ist ganz schwindlig... O Gott, o Gott, o Gott! Ich möcht' einen Menschen haben, mit dem ich ein Wort reden könnt' vorher! – Das wär' so was – zur Beicht' geh'n! Der möcht' Augen machen, der Pfaff', wenn ich zum Schluß sagen möcht': Habe die Ehre, Hochwürden; jetzt geh' ich mich umbringen!... – Am liebsten läg' ich da auf dem Steinboden und tät' heulen... Ah nein, das darf man nicht tun! Aber weinen tut manchmal so gut... Setzen wir uns einen Moment – aber nicht wieder einschlafen wie im Prater!... – Die Leut', die eine Religion haben, sind doch besser d'ran... Na, jetzt fangen mir gar die Händ' zu zittern an!... Wenn's so weitergeht, werd' ich mir selber auf die Letzt' so ekelhaft, daß ich mich vor lauter Schand' umbring'! – Das alte Weib da – um was betet denn die noch?... Wär' eine Idee, wenn ich ihr sagen möcht': Sie, schließen Sie mich auch ein... ich hab' das nicht ordentlich gelernt, wie man das macht... Ha! Mir scheint, das Sterben macht blöd'! – Aufsteh'n! – Woran erinnert mich denn nur die Melodie? – Heiliger Himmel! Gestern abend! – Fort, fort! Das halt' ich gar nicht aus!... Pst! Keinen solchen Lärm, nicht mit dem Säbel scheppern – die Leut' nicht in der Andacht stören – so! – doch besser im Freien... Licht... Ah, es kommt immer näher – wenn es lieber schon vorbei wär'! – Ich hätt's gleich tun sollen – im Prater... man sollt' nie ohne Revolver ausgeh'n... Hätt' ich gestern abend einen gehabt... Herrgott noch einmal! – In das Kaffeehaus könnt' ich geh'n frühstücken... Hunger hab' ich... Früher ist's mir immer sonderbar vorgekommen, daß die Leut', die verurteilt sind, in der Früh' noch ihren Kaffee trinken und ihr Zigarrl rauchen... Donnerwetter, geraucht hab' ich gar nicht! Gar keine Lust zum Rauchen! – Es ist komisch: ich hätt' Lust, in mein Kaffeehaus zu geh'n... Ja, aufgesperrt ist schon, und von uns ist jetzt doch keiner dort – und wenn schon... ist höchstens ein Zeichen von Kaltblütigkeit. »Um sechs hat er noch im Kaffeehaus gefrühstückt, und um sieben hat er sich erschossen«... – Ganz ruhig bin ich wieder... das Gehen ist so angenehm – und das Schönste ist, daß mich keiner zwingt. – Wenn ich wollt' könnt' ich noch immer den ganzen Krempel hinschmeißen... Amerika... Was ist das: »Krempel«? Was ist ein »Krempel«? Mir scheint, ich hab' den Sonnenstich!... Oho, bin ich vielleicht deshalb so ruhig, weil ich mir noch immer einbild', ich muß nicht?... Ich muß! Ich muß! Nein, ich will! – Kannst du dir denn überhaupt vorstellen, Gustl, daß du dir die Uniform ausziehst und durchgehst? Und der verfluchte Hund lacht sich den Buckel voll – und der Kopetzky selbst möcht' dir nicht mehr die Hand geben... Mir kommt vor, ich bin jetzt ganz rot geworden. – – Der Wachmann salutiert mir... ich muß danken... »Servus!« – Jetzt hab' ich gar »Servus« gesagt!... Das freut so einen armen Teufel immer... Na, über mich hat sich keiner zu beklagen gehabt – außer Dienst war ich immer gemütlich. – Wie wir auf Manöver waren, hab' ich den Chargen von der Kompagnie Britannikas geschenkt; – einmal hab' ich gehört, wie ein Mann hinter mir bei den Gewehrgriffen was von »verfluchter Rackerei« g'sagt hat, und ich hab' ihn nicht zum Rapport geschickt – ich hab' ihm nur gesagt: »Sie, passen S' auf, das könnt' einmal wer anderer hören – da ging's Ihnen schlecht!«... Der Burghof... Wer ist denn heut' auf Wach'? – Die Bosniaken – schau'n gut aus – der Oberstleutnant hat neulich g'sagt: Wie wir im 78er Jahr unten waren, hätt' keiner geglaubt, daß uns die einmal so parieren werden!... Herrgott, bei so was hätt' ich dabei sein mögen! – Da steh'n sie alle auf von der Bank. – Servus, servus! – Das ist halt zuwider, daß unsereiner nicht dazu kommt. – Wär' doch schöner gewesen, auf dem Feld der Ehre, fürs Vaterland, als so... Ja, Herr Doktor, Sie kommen eigentlich gut weg!... Ob das nicht einer für mich übernehmen könnt'? – Meiner Seel', das sollt' ich hinterlassen, daß sich der Kopetzky oder der Wymetal an meiner Statt mit dem Kerl schlagen... Ah, so leicht sollt' der doch nicht davonkommen! – Ah, was! Ist das nicht egal, was nachher geschieht? Ich erfahr's ja doch nimmer! – Da schlagen die Bäume aus... Im Volksgarten hab' ich einmal eine angesprochen – ein rotes Kleid hat sie angehabt – in der Strozzigasse hat sie gewohnt – nachher hat sie der Rochlitz übernommen... Mir scheint, er hat sie noch immer, aber er red't nichts mehr davon – er schämt sich vielleicht... Jetzt schlaft die Steffi noch... so lieb sieht sie aus, wenn sie schlaft... als wenn sie nicht bis fünf zählen könnt'! – Na, wenn sie schlafen, schau'n sie alle so aus! – Ich sollt' ihr doch noch ein Wort schreiben... warum denn nicht? Es tut's ja doch ein jeder, daß er vorher noch Briefe schreibt. – Auch der Klara sollt' ich schreiben, daß sie den Papa und die Mama tröstet – und was man halt so schreibt! – und dem Kopetzky doch auch... Meiner Seel', mir kommt vor, es wär' viel leichter, wenn man ein paar Leuten Adieu gesagt hätt'... Und die Anzeige an das Regimentskommando – und die hundertsechzig Gulden für den Ballert... eigentlich noch viel zu tun... Na, es hat's mir ja keiner g'schafft, daß ich's um sieben tu'... von acht an ist noch immer Zeit genug zum Totsein!... Totsein, ja – so heißt's – da kann man nichts machen...

Ringstraße – jetzt bin ich ja bald in meinem Kaffeehaus... Mir scheint gar,

Veröffentlicht / Quelle: 
Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 337-366. Erstdruck: Neue Freie Presse, Wien, 25. Dezember 1900

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Interpretation und Zusammenfassung: Arthur Schnitzlers „Leutnant Gustl“

Arthur Schnitzlers Novelle Leutnant Gustl (1900) gilt als Meilenstein der Literaturgeschichte und markiert den Beginn des inneren Monologs als literarisches Stilmittel im deutschsprachigen Raum. In dieser bahnbrechenden Erzählung gewährt Schnitzler einen ungeschönten Einblick in die Gedankenwelt eines österreichischen Leutnants der Jahrhundertwende. Die Novelle ist nicht nur ein literarisches Experiment, sondern auch eine scharfsinnige Gesellschaftskritik, die die Werte und Widersprüche des Militärapparats sowie der Wiener Gesellschaft thematisiert.

Inhaltliche Zusammenfassung

Die Handlung spielt sich nahezu vollständig im Kopf des Protagonisten, Leutnant Gustl, ab. Nach einem Konzert gerät Gustl mit einem Bäckermeister in einen Streit, bei dem dieser Gustl verbal bloßstellt und körperlich bedroht. Für Gustl, der in einer Welt lebt, in der Ehre und gesellschaftliches Ansehen alles bedeuten, ist dieser Vorfall eine Katastrophe. Sein militärischer Ehrenkodex verlangt in einer solchen Situation entweder Genugtuung durch ein Duell oder, falls dies unmöglich ist, den Suizid, um die eigene Ehre wiederherzustellen.

Die Nacht und der darauffolgende Tag durchlebt Gustl in tiefen existenziellen Konflikten, die zwischen Selbstmitleid, Angst, Trotz und gelegentlichem Selbstbewusstsein schwanken. Der innere Monolog enthüllt dabei nicht nur seine oberflächliche, impulsive Persönlichkeit, sondern auch die hohlen, oft grotesken Ideale, denen er folgt. Am Ende erfährt Gustl, dass der Bäckermeister unerwartet verstorben ist. Für ihn bedeutet dies die Wiederherstellung seiner Ehre, und er wendet sich ohne jegliche Reflexion seinem Alltag zu.

Interpretation und Themen

Schnitzler entlarvt in Leutnant Gustl die fragile Ehre und die geistige Leere einer Gesellschaftsschicht, die ihre Identität ausschließlich über äußere Werte wie Stand und Ansehen definiert. Gustls gedankliche Sprunghaftigkeit, seine Egozentrik und seine Unfähigkeit zur Selbstreflexion machen ihn zu einem Symptom des gesellschaftlichen Klimas der damaligen Zeit. Schnitzler kritisiert nicht nur den Ehrenkodex des Militärs, sondern auch die Doppelmoral und Oberflächlichkeit der kaiserlichen Wiener Gesellschaft.

Die Novelle spiegelt zudem Schnitzlers eigene Erfahrungen als Arzt wider, der sich intensiv mit der Psychoanalyse und den Theorien Sigmund Freuds auseinandersetzte. Die Darstellung der psychologischen Mechanismen im Bewusstsein und Unterbewusstsein des Protagonisten macht das Werk zu einer psychologischen Studie, die auch heute noch relevant ist.

Einordnung ins Gesamtwerk

Leutnant Gustl reiht sich in Schnitzlers Gesamtwerk als frühes Beispiel seiner kritischen Auseinandersetzung mit den sozialen und psychologischen Mechanismen der Wiener Gesellschaft ein. Werke wie die Traumnovelle (1926), die die dunklen Sehnsüchte und Abgründe der menschlichen Psyche beleuchtet, oder Casanovas Heimfahrt (1918), das den Alterungsprozess und die Melancholie eines ehemaligen Verführers thematisiert, greifen ähnliche Themen auf. Gemeinsam ist ihnen Schnitzlers Fähigkeit, komplexe Charaktere und deren innere Konflikte feinfühlig und präzise zu skizzieren.

Relevanz von Leutnant Gustl

Die Novelle bleibt ein bedeutendes Werk der literarischen Moderne und hat durch ihre innovative Erzähltechnik und tiefgehende Gesellschaftskritik nichts von ihrer Aktualität verloren. Sie fordert den Leser auf, über den Wert von Ehre, die Rolle des Individuums in sozialen Strukturen und die Illusionen einer gesellschaftlichen Fassade nachzudenken. Schnitzlers feinfühlige Analyse menschlicher Schwächen und seiner Zeit machen Leutnant Gustl zu einem zeitlosen Klassiker der Literatur.

Prosa in Kategorie: 
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