Leutnant Gustl - Page 5

Bild zeigt Arthur Schnitzler
von Arthur Schnitzler

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muß mir absagen, das Mensch! – Von so was hängt man ab... Nachmittag war noch alles gut und schön, und jetzt bin ich ein verlorener Mensch und muß mich totschießen... Warum renn' ich denn so? Es lauft mir ja nichts davon... Wieviel schlagt's denn?... 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11... elf, elf... ich sollt' doch nachtmahlen geh'n! Irgendwo muß ich doch schließlich hingeh'n... ich könnt' mich ja in irgendein Beisl setzen, wo mich kein Mensch kennt – schließlich, essen muß der Mensch, auch wenn er sich nachher gleich totschießt... Haha, der Tod ist ja kein Kinderspiel... wer hat das nur neulich gesagt?... Aber das ist ja ganz egal

Ich möcht' wissen, wer sich am meisten kränken möcht'?... Die Mama, oder die Steffi?... Die Steffi... Gott, die Steffi... die dürft' sich ja nicht einmal was anmerken lassen, sonst gibt »er« ihr den Abschied... Arme Person! – Beim Regiment – kein Mensch hätt' eine Ahnung, warum ich's getan hab'... sie täten sich alle den Kopf zerbrechen... warum hat sich denn der Gustl umgebracht? – Darauf möcht' keiner kommen, daß ich mich hab' totschießen müssen, weil ein elender Bäckermeister, so ein niederträchtiger, der zufällig stärkere Fäust' hat... es ist ja zu dumm, zu dumm! – Deswegen soll ein Kerl wie ich, so ein junger, fescher Mensch... Ja, nachher möchten's gewiß alle sagen: das hätt' er doch nicht tun müssen, wegen so einer Dummheit; ist doch schad'!... Aber wenn ich jetzt wen immer fragen tät', jeder möcht' mir die gleiche Antwort geben... und ich selber, wenn ich mich frag'... das ist doch zum Teufelholen... ganz wehrlos sind wir gegen die Zivilisten... Da meinen die Leut', wir sind besser dran, weil wir einen Säbel haben... und wenn schon einmal einer von der Waffe Gebrauch macht, geht's über uns her, als wenn wir alle die geborenen Mörder wären... In der Zeitung möcht's auch steh'n... »Selbstmord eines jungen Offiziers«... Wie schreiben sie nur immer?... »Die Motive sind in Dunkel gehüllt«... Haha!... »An seinem Sarge trauern...« – Aber es ist ja wahr... mir ist immer, als wenn ich mir eine Geschichte erzählen möcht'... aber es ist wahr... ich muß mich umbringen, es bleibt mir ja nichts anderes übrig – ich kann's ja nicht d'rauf ankommen lassen, daß morgen früh der Kopetzky und der Blany mir ihr Mandat zurückgeben und mir sagen: wir können dir nicht sekundieren!... Ich wär' ja ein Schuft, wenn ich's ihnen zumuten möcht'... So ein Kerl wie ich, der dasteht und sich einen dummen Buben heißen läßt... morgen wissen's ja alle Leut'... das ist zu dumm, daß ich mir einen Moment einbilde, so ein Mensch erzählt's nicht weiter... überall wird er's erzählen... seine Frau weiß's jetzt schon... morgen weiß es das ganze Kaffeehaus... die Kellner werd'n's wissen... der Herr Schlesinger – die Kassierin – – Und selbst, wenn er sich vorgenommen hat, er red't nicht davon, so sagt er's übermorgen... und wenn er's übermorgen nicht sagt, in einer Woche... Und wenn ihn heut' nacht der Schlag trifft, so weiß ich's... ich weiß es... und ich bin nicht der Mensch, der weiter den Rock trägt und den Säbel, wenn ein solcher Schimpf auf ihm sitzt!... So, ich muß es tun, und Schluß! – Was ist weiter dabei? – Morgen nachmittag könnt' mich der Doktor mit 'm Säbel erschlagen... so was ist schon einmal dagewesen... und der Bauer, der arme Kerl, der hat eine Gehirnentzündung 'kriegt und war in drei Tagen hin... und der Brenitsch ist vom Pferd gestürzt und hat sich 's Genick gebrochen... und schließlich und endlich: es gibt nichts anderes – für mich nicht, für mich nicht! – Es gibt ja Leut', die's leichter nähmen... Gott, was gibt's für Menschen!... Dem Ringeimer hat ein Fleischselcher, wie er ihn mit seiner Frau erwischt hat, eine Ohrfeige gegeben, und er hat quittiert und sitzt irgendwo auf'm Land und hat geheiratet... Daß es Weiber gibt, die so einen Menschen heiraten!... – Meiner Seel', ich gäb' ihm nicht die Hand, wenn er wieder nach Wien käm'... Also, hast's gehört, Gustl: – aus, aus, abgeschlossen mit dem Leben! Punktum und Streusand d'rauf!... So, jetzt weiß ich's, die Geschichte ist ganz einfach... So! Ich bin eigentlich ganz ruhig... Das hab' ich übrigens immer gewußt: wenn's einmal dazu kommt, werd' ich ruhig sein, ganz ruhig... aber daß es so dazu kommt, das hab' ich doch nicht gedacht... daß ich mich umbringen muß, weil so ein... Vielleicht hab' ich ihn doch nicht recht verstanden... am End' hat er ganz was anderes gesagt... Ich war ja ganz blöd von der Singerei und der Hitz'... vielleicht bin ich verrückt gewesen, und es ist alles gar nicht wahr?... Nicht wahr, haha, nicht wahr! – Ich hör's ja noch... es klingt mir noch immer im Ohr... und ich spür's in den Fingern, wie ich seine Hand vom Säbelgriff hab' wegbringen wollen... Ein Kraftmensch ist er, ein Jagendorfer... Ich bin doch auch kein Schwächling... der Franziski ist der einzige im Regiment, der stärker ist als ich...

Die Aspernbrücke... Wie weit renn' ich denn noch? – Wenn ich so weiterrenn', bin ich um Mitternacht in Kagran... Haha! – Herrgott, froh sind wir gewesen, wie wir im vorigen September dort eingerückt sind. Noch zwei Stunden, und Wien... todmüd' war ich, wie wir angekommen sind... den ganzen Nachmittag hab' ich geschlafen wie ein Stock, und am Abend waren wir schon beim Ronacher... der Kopetzky, der Ladinser und... wer war denn nur noch mit uns? – Ja, richtig, der Freiwillige, der uns auf dem Marsch die jüdischen Anekdoten erzählt hat... Manchmal sind's ganz nette Burschen, die Einjährigen... aber sie sollten alle nur Stellvertreter werden – denn was hat das für einen Sinn? Wir müssen uns jahrelang plagen, und so ein Kerl dient ein Jahr und hat genau dieselbe Distinktion wie wir... es ist eine Ungerechtigkeit! – Aber was geht mich denn das alles an? – Was scher' ich mich denn um solche Sachen? – Ein Gemeiner von der Verpflegsbranche ist ja jetzt mehr als ich: ich bin ja überhaupt nicht mehr auf der Welt... es ist ja aus

Veröffentlicht / Quelle: 
Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 337-366. Erstdruck: Neue Freie Presse, Wien, 25. Dezember 1900

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Interpretation und Zusammenfassung: Arthur Schnitzlers „Leutnant Gustl“

Arthur Schnitzlers Novelle Leutnant Gustl (1900) gilt als Meilenstein der Literaturgeschichte und markiert den Beginn des inneren Monologs als literarisches Stilmittel im deutschsprachigen Raum. In dieser bahnbrechenden Erzählung gewährt Schnitzler einen ungeschönten Einblick in die Gedankenwelt eines österreichischen Leutnants der Jahrhundertwende. Die Novelle ist nicht nur ein literarisches Experiment, sondern auch eine scharfsinnige Gesellschaftskritik, die die Werte und Widersprüche des Militärapparats sowie der Wiener Gesellschaft thematisiert.

Inhaltliche Zusammenfassung

Die Handlung spielt sich nahezu vollständig im Kopf des Protagonisten, Leutnant Gustl, ab. Nach einem Konzert gerät Gustl mit einem Bäckermeister in einen Streit, bei dem dieser Gustl verbal bloßstellt und körperlich bedroht. Für Gustl, der in einer Welt lebt, in der Ehre und gesellschaftliches Ansehen alles bedeuten, ist dieser Vorfall eine Katastrophe. Sein militärischer Ehrenkodex verlangt in einer solchen Situation entweder Genugtuung durch ein Duell oder, falls dies unmöglich ist, den Suizid, um die eigene Ehre wiederherzustellen.

Die Nacht und der darauffolgende Tag durchlebt Gustl in tiefen existenziellen Konflikten, die zwischen Selbstmitleid, Angst, Trotz und gelegentlichem Selbstbewusstsein schwanken. Der innere Monolog enthüllt dabei nicht nur seine oberflächliche, impulsive Persönlichkeit, sondern auch die hohlen, oft grotesken Ideale, denen er folgt. Am Ende erfährt Gustl, dass der Bäckermeister unerwartet verstorben ist. Für ihn bedeutet dies die Wiederherstellung seiner Ehre, und er wendet sich ohne jegliche Reflexion seinem Alltag zu.

Interpretation und Themen

Schnitzler entlarvt in Leutnant Gustl die fragile Ehre und die geistige Leere einer Gesellschaftsschicht, die ihre Identität ausschließlich über äußere Werte wie Stand und Ansehen definiert. Gustls gedankliche Sprunghaftigkeit, seine Egozentrik und seine Unfähigkeit zur Selbstreflexion machen ihn zu einem Symptom des gesellschaftlichen Klimas der damaligen Zeit. Schnitzler kritisiert nicht nur den Ehrenkodex des Militärs, sondern auch die Doppelmoral und Oberflächlichkeit der kaiserlichen Wiener Gesellschaft.

Die Novelle spiegelt zudem Schnitzlers eigene Erfahrungen als Arzt wider, der sich intensiv mit der Psychoanalyse und den Theorien Sigmund Freuds auseinandersetzte. Die Darstellung der psychologischen Mechanismen im Bewusstsein und Unterbewusstsein des Protagonisten macht das Werk zu einer psychologischen Studie, die auch heute noch relevant ist.

Einordnung ins Gesamtwerk

Leutnant Gustl reiht sich in Schnitzlers Gesamtwerk als frühes Beispiel seiner kritischen Auseinandersetzung mit den sozialen und psychologischen Mechanismen der Wiener Gesellschaft ein. Werke wie die Traumnovelle (1926), die die dunklen Sehnsüchte und Abgründe der menschlichen Psyche beleuchtet, oder Casanovas Heimfahrt (1918), das den Alterungsprozess und die Melancholie eines ehemaligen Verführers thematisiert, greifen ähnliche Themen auf. Gemeinsam ist ihnen Schnitzlers Fähigkeit, komplexe Charaktere und deren innere Konflikte feinfühlig und präzise zu skizzieren.

Relevanz von Leutnant Gustl

Die Novelle bleibt ein bedeutendes Werk der literarischen Moderne und hat durch ihre innovative Erzähltechnik und tiefgehende Gesellschaftskritik nichts von ihrer Aktualität verloren. Sie fordert den Leser auf, über den Wert von Ehre, die Rolle des Individuums in sozialen Strukturen und die Illusionen einer gesellschaftlichen Fassade nachzudenken. Schnitzlers feinfühlige Analyse menschlicher Schwächen und seiner Zeit machen Leutnant Gustl zu einem zeitlosen Klassiker der Literatur.

Prosa in Kategorie: 
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