Rotfleckenfieber - Page 3

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von Daniel G. Spieker

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werden. Das konnte er nicht mitansehen. Selbst als er schon fast wieder bei der Stadt war, konnte er noch die Schreie hören.
Mehrere Leute im Städtchen kamen auf Jonathan zu, der völlig verstört jedwede Anfrage ablehnte, aber mehrmals wurde er angefasst und gefragt, was los wäre. Er konnte nur den Kopf schütteln. Inständig hoffte er, dass der Bürgermeister die Leute aufklären würde.
Am nächsten Tag hatte sich alles schon etwas beruhigt, aber trotzdem war es immer noch das eheste Gesprächsthema. Mittlerweile wusste man von dem Fall und man sah mehr Leute mit einem Taschentuch vor dem Mund umherlaufen. Auch Jonathan selbst trug die meiste Zeit ein Taschentuch. Im Rathaus informierte er die Sekretärin, dass er nun die Wasserversorgung begutachten wollte.
„Ich werde kurz mit dem Bürgermeister sprechen.“ Nach einigen Minuten kam sie wieder heraus und nannte ihm den Mann mit dem er sprechen sollte. Hugo hieß er und müsste in dieser Zeit wohl im Gasthaus zu finden sein, in dem Jonathan auch lebte.
Stirnrunzelnd ging Jonathan zurück zum Gasthaus und fand in den unteren Räumen tatsächlich einen mittelalten Mann, rot im Gesicht und vor sich ein Krug Bier. Er mochte den Anblick von Menschen, die so früh tranken nicht; es hatte etwas unangenehmes. „Entschuldigen Sie?“ „Ja? Was gibt’s?“, gab er zurück. „Sie sollen mir die Wasserversorgung zeigen.“ „Ach, stimmt – wurde mir ja gesagt. Also – gehen wir los?“ Jonathan nickte und nachdem Hugo in einem Zug seinen Krug leerte und zahlte, gingen sie heraus und am Rand der Stadt passierten sie ein eisernes Gitter und liefen über abgetretene Stufen nach unten, um die Wasserversorgung genauer zu begutachten.
Viele Teile waren rostig und müssten ausgebessert werden, auch die Filter waren schon seit langer Zeit nicht mehr ordnungsgemäß gewechselt worden. Es dauerte ein paar Stunden bis er alle Informationen hatte, ging dann zurück und schrieb müde seinen Bericht.
Den Vorfall vom Tag zuvor notierte er ebenfalls. Immer wieder holten ihn die Bilder ein. Am nächsten Morgen wurde er durch heftiges Klopfen an der Tür geweckt. Es hatte einen weiteren Zwischenfall gegeben. „Der Bürgermeister muss Sie sprechen!“ „Was... was ist denn?“ „Ein neuer Fall. Wieder ist jemand erkrankt“ „Ein neuer...“ Plötzlich war Jonathan hellwach. Was war passiert? War jemand vom verdammten Landhaus geflohen?
Als er unten ankam, stand dort schon die Polizeidirektion und der Bürgermeister.
„Einer der Arbeiter in der Fabrik ist betroffen.“ Jonathan zögerte, aber es gab keine andere Möglichkeit, auch wenn es ihm schwerfiel. „Wir müssen wie beim Bauernhaus verfahren“, sagte er trocken. „Das geht nicht.“ „Wir müssen.“ „Es geht nicht. Das Pulver in der Fabrik, wir können es nicht niederbrennen. Und die Arbeiter lassen sich sicher nicht einfach erschießen.“ „Wir müssen“, wiederholte Jonathan. „Nein – es ist nicht möglich. Welche Optionen haben wir noch?“ Jonathan überlegte, darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Es war nicht die beste Lösung, aber wohl das einzige was übrig blieb.
„Quarantäne – niemand darf die Fabrik verlassen, sonst wird er direkt erschossen. Die Fenster müssen verschlossen bleiben, die Türen ebenfalls. Der Bahnhof muss gesperrt werden. Sorgen Sie dafür.“ Der Bürgermeister nickte.
Er sah zu, wie die Fabrik abgesperrt wurde und die Polizei anfing zu patrouillieren. Zum Wohle aller. Der Gedanke durchzog ihn wieder.
Die Stadt hatte sich verändert und man merkte den Leuten die Angst an.
Jeder trug ein Taschentuch vor dem Mund. Jonathan schloss sich ein und schrieb seinen Bericht weiter. Einfach nur, um seinen Aufgaben nachzukommen.
Das Rotfleckenfieber hatte in kürzester Zeit ein ganz anderes Ausmaß angenommen.
Erst bemerkte er nur halb, dass es klopfte. Das Abendessen. Doch dann hörte er ein Husten. Erschrocken stand er direkt auf, ging mit dem Taschentuch vor dem Mund nach draußen und sah noch einer der Angestellten hinterher, ein paar Punkte auf ihrer Hand.
Auch sie war krank. Er musste hier weg. Eilig zog er sich an und verließ das Haus. Da ihm nicht einfiel, wo er sonst hinkönnte, ging er zu dem Rathaus. Es war schon spät und die Tür war verschlossen. Mehrmals klopfte er, bis ihm schließlich der Bürgermeister öffnete.
„Die Leute im Gasthaus sind ebenfalls krank.“ „Sind Sie...?“ „Nein – keine roten Punkte – sehen Sie?“ Er schob die Ärmel etwas nach oben und zeigte seine Haut. Der Bürgermeister nickte kopfschüttelnd und ließ ihn herein. „Kann ich bei Ihnen ein paar Nächte unterkommen?“ „Natürlich – ohne Sie wäre sicher schon die ganze Stadt erkrankt. Ich werde mich um das Gasthaus kümmern. Lassen Sie sich von meinem Sohn bedienen.“ Er drehte sich um und sagte etwas lauter: „David, komm bitte mal her!“ Aus dem Nebenraum kam ein junger Mann. „Mach unserem Gast eine Suppe – ich muss noch einmal los.“ „Wieder ein Fall?“ „Ja. Bitte, bleib einfach bei Herrn Kain.“ „Vater – ich werde mich um alles kümmern.“ Er führte Jonathan zum Esstisch und stellte sich danach selbst in die Küche. Durch das Fenster konnte Jonathan das brennende Gasthaus sehen. Es schmerzte ihn zwar, als er draußen den sich spiegelnden Feuerschein sah, aber es war zum Wohle aller. „Wird es die Stadt schaffen?“, fragte der Sohn des Bürgermeisters, als er die Suppe brachte. Jonathan konnte nicht antworten.
Am nächsten Tag ging Jonathan mit einem Taschentuch nach draußen. Er musste sehen, was passiert war. Das ganze Stadtbild war nur noch eine Karikatur. Das ehemalige Gasthaus ein verbrannter Rest. Überall liefen Polizisten mit geladenen Waffen umher. Es wurde kritisch.
Er fand schließlich auch den Ort, bei dem er zu der Wasserversorgung gekommen war und ihm wurde klar, dass das bald ebenfalls ein Problem werden würde. Eilig ließ er die Städter informieren, alles abzukochen. Er ging dann zurück, blieb stundenlang in seinem Zimmer und schrieb seinen Bericht. Danach kontrollierte er sich. Jeden Zentimeter seines Körpers und hoffte bloß nichts zu finden. Und tatsächlich – bisher hatte es nicht auf ihn übergegriffen.
Am nächsten Morgen stand er früh auf. Er hoffte, dass sich mittlerweile alles erholt hatte. Der Bürgermeister saß am Frühstückstisch und aß, doch als Jonathan sah, dass auf seiner Hand ein paar kleine rote Punkte waren, machte er einen Schritt zurück.
Selbst der Bürgermeister war krank, das Wasser musste nicht anständig abgekocht sein. Vorsichtig ging er hin, mit dem Taschentuch vor dem Mund.
„Sie müssen sich ausliefern lassen.“ „Bitte was?“ „Die Punkte auf Ihrer Haut.“ „Ich hab mich gekratzt oder so – ich bin nicht krank“, sagte er. „Gehen Sie zur Polizei.“ „Ich bin nicht krank.“ Er sprach es mehr zu sich selbst als zu Jonathan. „Ich bin nicht krank“, wiederholte er. „Sie sind krank. Sie müssen zur Polizei gehen, Sie müssen.“ Es irritierte den Bürgermeister, diesem wurde klar, dass das sein Todesurteil war, aber er wollte es nicht wahrhaben. Er stand dann auf, ging langsam auf Jonathan zu. „Ich. Bin. Nicht. Krank. Diese ganze Stadt – Sie haben alles zerstört!“ „Die Krankheit spricht aus Ihnen – bitte, lassen Sie uns das so schmerzlos wie möglich regeln.“ Das Gesicht des Bürgermeisters wandelte sich zu Entsetzen und er griff zur Kommode, riss sie auf und holte eine Pistole hervor. „Sie wollen mich tot sehen – Sie sind der Kranke! SIE!“ Er schoss Jonathan in seine linke Hand. In halben Sekunden durchzuckte ihn ein unglaublicher Schmerz. Jonathan schrie auf.
Wohl durch die Lautstärke aufgescheucht, kam sein Sohn aus einem anderen Zimmer. „Was ist los – was ist...“ Und nun legte sich für einen Moment eine Totenstille über den ganzen Raum. Die Haut seines Sohnes war übersät von kleinen, roten Punkten, noch viel stärker, als beim Bürgermeister selbst.
Jonathan nutzte den Schockmoment, schlug dem Mann die Pistole aus der Hand. „Sie haben alles zerstört. Sie!“ Er schüttelte nur den Kopf und ging langsam auf Jonathan zu. Jonathan schoss. Blut spritzte aus dem Schädel. Der Bürgermeister sackte in sich zusammen. Kurz darauf richtete er die Waffe auf den Sohn, der angerannt kam, zu seinem Vater wollte und schoss ein weiteres Mal. Wäre er näher gekommen, hätte er Jonathan wahrscheinlich angesteckt. Entweder er starb jetzt oder in den nächsten Tagen wären er und Jonathan gestorben. Er musste ihn töten um zu überleben; es gab keine andere Möglichkeit.
Bewaffnet mit dem Revolver, griff er seine Unterlagen, rannte aus dem Rathaus und bevor irgendwer reagieren konnte, hatte er längst das Städtchen verlassen. Niemand verfolgte ihn, vielleicht hatte ihn niemand gesehen.
Der Weg führte durch die Felder und er sah sich um. Die Kühe – da wo alles begonnen hatte.
Dieser verdammte Sturm.
Diese Stadt war dem Untergang geweiht – aber die Informationen würden das ganze Reich retten.

Die Rückreise zur Reichsstadt war mehr als beschwerlich. Am Tag seiner Ankunft wurde er befördert und sein Bericht wurde direkt entgegengenommen.
Man brachte ihn direkt zu einer speziellen Praxis, da sich seine Schusswunde entzündet hatte, weil er sie nur sehr grob hatte verarzten können. Später würde er in eines der besten Hotels der Stadt kommen.
„Lassen Sie mal sehen. Ein sauberer Durchschuss – ich werde eine Probe nehmen.“ „Machen Sie das.“ Der Arzt nahm die Probe und machte einige Tests. „Ich denke mit ein paar Medikamenten kriegen wir sie wieder hin.“ „Hole ich morgen die Ergebnisse ab?“ „Ja, kommen Sie morgen wieder.“
Es tat gut in dem Hotel zu schlafen und er würde am Ende der Woche für seinen Einsatz ausgezeichnet werden. Doch alles ließ ihm keine Ruhe. Er hatte immer noch den Revolver dabei, einfach nur um sich sicher zu fühlen, wenn er ihn weglegte machte ihm alles noch mehr Angst.
Am nächsten Tag ging er direkt wieder zum Arzt und man ließ ihn hereinkommen.
„Warten Sie, ich hole kurz die Ergebnisse“, sagte der Arzt und verschwand kurz aus dem Raum, dann kam er wieder setzte sich und klappt die Akte auf. „Die Werte sind zum größten Teil normal, nur ein Wert, warten Sie – Sie haben Rotfleckenfieber“, stotterte der Arzt. „Das kann nicht sein. Ich habe keine Symptome heute oder die letzten Tage gehabt.“ Das war unmöglich. Das war einfach nicht möglich. „Das kann nicht sein“, sagte er noch einmal, um sich selbst zu bekräftigen.
„Nein, der Wert lässt darauf schließen, dass sie es schon seit ein paar Wochen haben. Aber Sie scheinen keine Symptome zu haben. Sie geben den Erreger nur weiter.“
Jonathans Welt zersplitterte.
Er hatte diese Stadt zerstört – er musste sich irgendwo angesteckt haben.
Er war für diese ganzen Toten verantwortlich, wegen ihm, waren alle gestorben.
Er war schuld.
„Ich muss Sie der Polizei übergeben“, sagte der Arzt.
Nein. Das würde nicht das Ende sein. Ein Gedanke durchzuckte ihn. Zum Wohle aller? Es ging jetzt um ihn. Er führte seine Gedanken nicht weiter, griff nach seinem Revolver und beendete das Leben des Arztes mit zwei Schüssen.
Bevor irgendwer reagieren konnte, floh er aus dem Gebäude und verschwand aus der Stadt.

Zwei Tage später las er – weit entfernt – dass die Seuche in der Hauptstadt des Reiches ausgebrochen war.

Zuerst starben die Kühe.

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