Nachtflug

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von Marie Mehrfeld

Wenn du wieder einmal wütend an die Grenzen deiner Fähigkeiten gestoßen bist, an den rostigen Gitterstäben deines Daseins gerüttelt und vergeblich versucht hast, dich aus dem Gespinst von falschen Gewohnheiten, eigener Trägheit, trüben Gedanken zu befreien,

wenn du wieder einmal das Gefühl hast, stecken geblieben zu sein, gefangen im Sumpf der Halbwahrheiten, im Rasen der begrenzten Zeit, in eigenen uralten Ängsten, dann denke daran, dass du eine Lösung hast, denn du kannst fliegen: Lass dich auf den Schlaf ein, aufs Träumen.

Zuerst kommen die Verfolger, sie gehören dazu. Heute Nacht trugen sie spitze schwarze Hüte und schwingende Harlekinmäntel in Lilatönen, ihre Mienen grimmig, mordlüstern die kleinen Augen, sie hielten scharfe Messerchen in den Händen, ihre Roboterfüße waren im Dauertrab, ich vernahm ihren hechelnden Atem, du entkommst uns nicht.

Wie immer ließ ich meine Nachtmahren furchtlos dicht an mich heran, dann breitete ich meine Arme weit aus und hob federleicht ab vom massigen Boden, schwang mich mühelos hinauf in die Nachtluft, schwebte, kreiste hoch über alten Städten mit grauen Türmen und dunkelgrünen Tälern, karstigen Berggipfeln und weiten blauen Seen, fühlte mich froh, beschützt und sicher, frei von Schmerzen, aus der Ferne betrachtet wirkte alles Irdische winzig klein, ungefährlich und erhaben schön.

Während des nächtlichen Fliegens fühlt sich mein Leben leicht und frei an, ich möchte die Welt umarmen. Warum nur vergesse ich tagsüber wieder, dass ich fliegen kann?

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