Justine oder vom Missgeschick der Tugend - Page 164

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Mauleseln die Grenze der Dauphiné. Da die Reisenden noch ein großes Stück vor sich hatten, übernachteten sie in Virieux und[394] am nächsten Tage setzten sie ihren Marsch in derselben Richtung fort. Gegen vier Uhr nachmittags langten sie am Fuß des Gebirges an. Da die Wege fast ungangbar waren, empfahl Roland dem Mauleseltreiber, Justine nicht zu verlassen, und alle drei drangen in die Schluchten ein. Unsere Heldin, die keine Spur eines Weges mehr fand, konnte sich einer Unruhe nicht erwehren. Roland sprach kein Wort. Dieses Schweigen erschreckte unser unglückliches Mädchen noch mehr, als sie endlich am Rande eines furchtbaren Abgrundes ein Schloß liegen sah. Kein Weg schien dahin zu führen. Der, den unsere Wanderer gingen, langte trotzdem nach vielen Windungen bei dieser furchtbaren Behausung an, die mehr einer Zufluchtsstätte von Dieben, als dem Aufenthaltsorte von ehrlichen Leuten ähnelte.

»Hier ist mein Haus,« sprach Roland, und da Justine Erstaunen merken ließ, daß er in solcher Einsamkeit wohne, antwortete er ihr rauh: »So paßt es mir!« Diese Antwort verdoppelte die Befürchtungen unserer Unglücklichen, aber da sie nicht mehr zurück konnte, hielt sie sich still. Roland stieg von seinem Maultier herab und befahl Justine, das Gleiche zu tun. Dann bezahlte er den Maultiertreiber und verabschiedete ihn. Da dieses Vorgehen Justine von neuem beunruhigte, fragte Roland sie in sanftem Tone: »Was haben Sie, Justine? Dieses Haus ist an der Grenze der Dauphiné gelegen, es gehört noch zu Grénoble.« – »Schön, mein Herr, aber wie ist es Ihnen eingefallen, sich in einer so verlassenen Schlucht festzusetzen?« – »Das kommt daher, daß die Bewohner nicht sehr ehrliche Leute sind,« sprach Roland; »es wäre sehr leicht möglich, daß Sie von ihrer Beschäftigung nicht sehr erbaut wären.« – »Ah, mein Herr, Sie machen mich schaudern, wohin führen Sie mich?« – »Ich führe dich zur Falschmünze, deren Oberhaupt ich bin,« sprach Roland und erfaßte den Arm Justinens, um sie über eine kleine Fallbrücke zu führen. »Siehst du diesen Brunnen?« sprach er, als sie im Hofe angelangt waren, »diese vier nackten, angeketteten Frauen, die das Rad drehen, sind deine Genossinnen; wenn du täglich zehn Stunden dieses Rad gedreht und alle meine Launen befriedigt haben wirst, erhältst du sechs Unzen Schwarzbrot und eine Schüssel Linsen. Auf deine Freiheit mußt du verzichten, die wirst du nie wieder erlangen; wenn du sterben solltest, wird man dich in das Loch, das du neben diesem Brunnen siehst, werfen und du wirst damit das Los vom zweihundert anderen Schurkinnen teilen, die bereits darin liegen.« – »Oh, großer Gott,« rief Justine aus und warf sich Roland zu Füßen, »erinnern Sie sich doch, daß ich Ihnen das Leben gerettet habe und daß Sie mir Dankbarkeit versprochen haben und mich zu belohnen. Ist das, was Sie tun, gerecht?« – »Was verstehst du unter dem Gefühl der Dankbarkeit, mit dem du mich zu fesseln glaubst,« fragte Roland, »was tatest du, als du mir zu Hilfe eiltest? Zwischen der Möglichkeit,[395] deinen Weg fortzusetzen, und der, zu uns zu kommen, hast du die letztere gewählt, weil dein Herz dich so geleitet hat. Du empfandest also dabei eine Befriedigung. Woher, zum Teufel, nimmst du also die Verpflichtung, daß ich dir dankbar sein soll? Zur Arbeit, Sklavin, zur Arbeit!« Bei diesen Worten wurde Justine auf Befehl Rolands von zwei Knechten erfaßt, unsanft entkleidet und an ihre Arbeit geführt. Roland trat nochmals an sie heran. Er betastete sie überall und, verhöhnte sie grausam, als er das demütigende Zeichen des grausamen Rombeau bemerkte. Dann bewaffnete er sich mit einem Ochsenziemer und versetzte ihr sechzig Schläge auf den Hintern. »So wirst du immer behandelt werden, Schurkin, wenn du deine Pflicht vernachlässigst,« sprach der Niederträchtige und rieb sein Glied an den Blutstropfen, die aus den Wunden floßen. »Du bist noch nicht am Ende deiner Leiden und ich will, daß du hier alle raffinierten Arten der Grausamkeit kennen lernen, wirst!« Dann ließ er sie allein.

Sechs finstere Höhlen dienten den Unglücklichen während der Nacht als Schlafraum. Man band also Justine und ihre Genossinnen los und sperrte sie in diese Löcher ein, nachdem man ihnen ihr karges Abendessen aufgetragen hatte.

Unsere Heldin war kaum allein, als sie sich den Gedanken über ihre furchtbare Lage hingab. »Ist es möglich,« sprach sie zu sich, »daß es Menschen sind, die so hart sind, daß sie das Gefühl der Dankbarkeit in sich ersticken?« Sie hing eben diesen Gedanken weiter nach, als plötzlich die Türe ihres Kerkers sich öffnete und Roland hereintrat, um an ihr alle seine Launen zu befriedigen, und welche Launen waren das, gerechter Gott! Aber wir wollen die Geduld unserer Leser nicht mißbrauchen und einen Schleier über diese neuen Grausamkeiten ziehen; haben wir ihren Geist nicht schon genug durch niederträchtige Schilderungen beschmutzt?

Am nächsten Tage prüfte Justine genauer ihre Umgebung. Ihre vier Genossinnen waren Mädchen von fünfundzwanzig bis dreißig Jahren und obwohl sie durch das Elend und die Arbeit entstellt waren, zeigten sie dennoch Spuren von großer Schönheit; die jüngste namens Suzanne war sogar noch schön zu nennen. Roland hatte sie in Lyon ihrer Familie durch ein Heiratsversprechen entführt und sie in dieses furchtbare Haus gebracht. Sie war seit drei Jahren der Gegenstand, auf den sich alle Grausamkeit des Ungeheuers richtete. Durch die Schläge mit dem Ochsenziemer war ihre Haut runzelig und hart wie die einer alten Kuh geworden. An ihrer linken Hüfte hatte sie einen Schanker und in ihrem Muttermund befand sich ein Abszeß; alles das war das Werk des niederträchtigen Roland. Von ihr erfuhr Justine, daß sich der Schuft in nächster Zeit nach Venedig begeben wollte, um dort sein falsches Geld anzubringen. Alles sollte von diesem großen Streich, den er dort ausführen wollte, abhängen. »Ach!« sprach Justine, als sie von diesem Unternehmen erfuhr, »ich hoffe, daß die Vorsehung einmal gerecht sein wird. Sie wird ein derartiges[396] Ungeheuer nicht mit Erfolg krönen und wir werden alle gerächt werden.«

Mittags ließ man den Unglücklichen zwei Stunden Ruhe, die gleichzeitig zum Speisen benutzt wurden. Nach Verlauf dieser Zeit band man sie von neuem an und ließ sie bis in die Nacht arbeiten. Ihre Nacktheit diente dazu, Roland bessere Gelegenheit zum Schlagen zu geben. Im Winter erhielten sie eine Weste

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Veröffentlicht / Quelle: 
Marquis de Sade: Die Geschichte der Justine. 1906
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