Benny – ein Adventsgeschichte

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von Annelie Kelch

„Benny, du hast deinen Tannenzweig vergessen“, rief seine Mutter ihm nach.
Benjamin, der schon den Bürgersteig entlangmarschiert war, wandte sich um: Seine Mutter stand vor der Haustür und winkte mit dem waldgrünen kleinen Tannenzweig, den er heute mit in die Schule nehmen wollte.

Frau Klüver, seine Grundschullehrerin, wollte mit der Klasse 2 b den ersten Advent nachfeiern. Darauf freute sich Benny schon riesig. Die schöne weiße Kerze, die seine Mutter auf dem Weihnachtsmarkt gekauft hatte, lag bereits seit Sonntagabend in seinem Ranzen neben den Schulheften.
Benjamin lief zurück zum Haus und nahm den Tannenzweig in Empfang. „Danke, Mama, bis heute Mittag! Jetzt muss ich mich aber ganz doll beeilen“, rief er und rannte davon.

Unterwegs dachte er immer wieder an die schöne Kerze in seinem Schulranzen, bis er es nicht mehr aushielt. Er zog seine Handschuhe aus, öffnete den Ranzen und nahm sie heraus. Sie war mit vielen bunten Sternlein geschmückt; Benny hatte noch nie zuvor eine schönere Kerze in seinen Händen gehalten. Frau Klüver und die anderen Kinder werden staunen, dachte er. Ich will sie jedem, der sie mag, einmal ausleihen. Wir könnten ja tauschen.

Es war noch dunkel draußen, denn der Schultag nach dem ersten Advent begann zur ersten Stunde. Um acht Uhr ging der Unterricht los. Jetzt kam schon Karstadt in Sicht. Danach waren es nur noch knapp fünfzig Meter bis zur Erich-Kästner-Schule.

Gleich neben dem Eingang zu Karstadt lag Kalle. Dass der nicht friert, dachte Benny. Kalle – das war ein alter Mann, der keine Wohnung hatte. Benny wechselte hin und wieder ein paar Worte mit ihm. Kalle war ganz nett und stets zu Scherzen aufgelegt.
Benny tat ein paar Schritte auf Kalle zu; er wollte ihm die Kerze und den Tannenzweig zeigen. Dann sah er das Blut: Es quoll aus Kalles rechtem Ohr und aus seiner Nase. Auf dem Straßenpflaster hatte sich bereits eine kleine Blutlache gebildet.

„Kalle, lebst du noch?“, fragte Benny ängstlich.
Kalle stöhnte. „Mein Kopf tut so furchtbar weh und ich blute wohl auch“, flüsterte er mit schwacher Stimme.

„Warte nur“, sagte Benny. „Ich habe mein Handy mit – für alle Fälle. Gleich kommt ein Krankenwagen; ich kenne die Nummer. Mama hat sie eingespeichert.“

„Hier liegt Kalle, neben Karstadt, ein alter Mann, er ist obdachlos, und blutet aus einem Ohr und aus der Nase, ganz, ganz doll. Bitte kommen Sie schnell, er stirbt sonst womöglich“, rief Benny ins Handy.

Benjamin hatte den Tannenzweig und die Kerze neben Kalles Kopf abgelegt, damit Kalle den Duft des Zweigleins schnuppern konnte, aber Kalle war wohl inzwischen besinnungslos geworden und regte sich nicht mehr.
Hoffentlich stirbt er nicht, dachte Benny.
Mittlerweile hatten sich eine Menge Menschen eingefunden, die wohl alle zur Arbeit wollten, denn Karstadt öffnet ja erst so gegen zehn.

„Der Krankenwagen kommt gleich. Ich habe ihn per Handy bestellt“, sagte Benny, blickte in die Runde und fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben fast erwachsen. Ein großer älterer Mann mit Hut lächelte ihm freundlich zu, und Benny lächelte zurück.

„Tatüütata, tatüütata!“, tönte es auch schon aus nicht allzu weiter Ferne.
Drei Sanitäter sprangen aus dem quietschenden Wagen und kümmerten sich fürsorglich um Kalle.

„Er schafft es, mein Junge“, sagte einer der Männer zu Benny, als Kalle bereits auf einer Trage hinten im Wagen lag. „Verrate mir doch bitte deinen Namen und deine Anschrift.“
„Ich heiße Benny, Benjamin Bender“, sagte Benny und teilte seine Anschrift mit.
„Vielleicht besuchst du Kalle in den nächsten Tagen mal im Krankenhaus. Er wird sich gewiss riesig freuen, dich zu sehen“, lachte der nette Sanitäter und stieg zu den anderen in den Krankenwagen. Dann brausten sie auch schon davon.
Benny nahm seinen Ranzen auf und trabte zur Schule. Jetzt komme ich zum ersten Mal zu spät, dachte er. Aber Kalle war wichtiger.

Als er in den Flur bog, auf dessen rechter Seite sein Klassenzimmer lag, drang der Gesang vieler Kinderstimmen an sein Ohr. Das hörte sich sehr festlich an, obwohl in jeder Klasse ein anderes Lied gesungen wurde. Er öffnete die Tür zu seinem Klassenraum. Seine SchulkameradInnen sangen gerade: „O du fröhlichehe, o du seligehe …“ – Es war noch sehr schummrig in dem großen Raum. Jedes Kind hatte ein Tannenzweiglein vor sich auf dem Tisch liegen, und in jedem Zweig stand eine brennende Kerze.
Benny setzte sich ganz still an seinen Platz. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er seinen Tannenzweig und die schöne Kerze bei Kalle vergessen hatte. Das machte ihn ein wenig traurig – aber wirklich nur ein ganz klein wenig. – Hoffentlich geht es dem Kalle jetzt besser, dachte er. Am Abend wollte er für ihn beten. Hier in der Schule ging das nicht.

„Benjamin, weshalb kommst du zu spät, und wo sind dein Tannenzweig und die Kerze, die du heute zum Unterricht mitbringen solltest?“, fragte Frau Klüver.

Benny räusperte sich und wollte gerade loslegen … als plötzlich jemand an die Tür pochte.
Frau Klüver öffnete, und Benny wollte seinen Augen nicht trauen: Auf der Schwelle stand jener ältere Herr mit Hut, der große Mann, der aus der bunten Menge, die sich um den blutenden kranken Kalle gescharrt hatte, herausgeragt und ihn angelächelt hatte.

„Für Benjamin“, sagte er zu Frau Klüver und hielt ihr Bennys Tannenzweiglein und die schöne Kerze hin. Dann suchte er mit den Augen die Klasse ab, und als er Benny in der zweiten Reihe neben dem Fenster entdeckt hatte, zwinkerte er ihm freundlich zu.

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