Gute Nacht Merlin - Protokoll eines Trauerjahres - Page 13

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von Cleo Cleo

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wenn ich mir zehnmal am Tag sage , dass er ja nicht WIRKLICH fort ist, sondern nur in einer anderen Dimension ... wenn ich mir auch zehnmal am Tag sage, dass er ja in unseren Erinnerungen LEBT... wenn ich mir auch zehnmal am Tag sage, dass er ja bei uns ist – in jeder Geste der Liebe und Zuneigung und in jedem lieben Wort, das wir einander sagen – so wie ich es in dem Kondolenzbuch im Internet geschrieben habe:
Es hilft nichts.
Ich vermisse ihn.
Und wenn ich daran denke, dass ich NIE wieder seine Stimme und sein ansteckendes Lachen hören werde, nie wieder sein kluges Gesicht sehen.... dann muss ich weinen und ich kann nichts dagegen tun.
Wir konnten einander nur selten sehen - aber wir haben viel telefoniert und gemailt - und wir haben viele schöne Augenblicke mit einander geteilt.
Ich habe noch die Bilder , die er mir aus Spanien geschickt hat, als er im Oktober dort mit Ihrem Bruder Mario auf Wandertour war.
Und wenn ich sie anschaue, dann fühle ich, wie er mir langsam entgleitet. Und das tut verdammt weh.
Es tut verdammt weh, zu spüren, wie der geliebte Mensch zu einer Erinnerung GERINNT. Und zu spüren, wie sich diese Erinnerung von diesem so pulsierend lebendigen Menschen löst und irgendwann nur noch die Fotos bleiben . Dass er zu einem Phantom wird...
Ich habe auch gar keine Freude mehr an diesem schönen sonnigen Spätherbstwetter mit dem schönen blauen Himmel und dieser tückischen, tief stehenden Sonne. Denn ich muss immer daran denken, dass es vielleicht DIESE Sonne war, die Ihren Eltern zum Verhängnis geworden ist.

Jeden Tag... spätestens um 11.50.. .springt mich der Gedanke an: „Merlin ist tot“... und dann wird es mir in der Kehle eng und die Sprache versagt mir.
Seit dem Anruf Ihres Bruders am 04. November funktioniere ich wie ein Automat. Ich esse, rede mit den Leuten, gehe meinen Verpflichtungen nach, besuche Seminare , Rats- und Ausschusssitzungen... aber eigentlich bin ich gar nicht DA...eigentlich bin ich gestorben am 31. Oktober um 11.50. Ich habe es nur nicht gewusst – und jetzt irre ich als Wiedergänger durch mein Leben und weiß nicht, wohin mit mir.
Ich kann mit niemandem WIRKLICH reden, denn hier ist niemand, der Ihren Vater persönlich gekannt hat.
Sie können Ihre Trauer und Ihre Erinnerungen teilen. Sie haben Ihre Familie – und als ich sie dort alle miteinander habe stehen sehen – auf dem Friedhof am offenen Grab – da habe ich gespürt, wie sehr sie einander zugetan sind. Das weiß ich ja auch aus Merlins Erzählungen – und ich sehe es auch an den Bildern die er mir immer geschickt hat, wie stark der Zusammenhalt unter Ihnen allen und wie Ihr schönes Elternhaus in Ampen, das Ihr Vater ja auch mit seinen eigenen Händen mit gebaut hat -und dessen Garten Ihre Mutter immer mit so viel Liebe und Arbeit gepflegt hat, für Sie eine Anlaufstelle und der Mittelpunkt ihres Lebens war (IST???) – auch wenn Sie längst woanders wohnen.

Lieber Sascha W.– da sind so viele Fragen, die mich seit Wochen quälen. Ob Ihre Eltern lange haben leiden müssen... ob es WIRKLICH die Blendung durch die Sonne war.... .wie es Laura geht – wie SIE zurecht kommt mit dem Tod ihrer geliebten Großeltern... und wie es Ihrer Großmutter mütterlicherseits geht. Klaus hat mir ab und zu erzählt, wie sehr sie es immer genossen hat, wenn er sie in den Arm nahm.
Aber ich traue mich nicht, Ihren Bruder Mario oder ihre Schwägerin zu fragen. Ich möchte nicht als jemand dastehen, die sich aufdrängt und in familiäre Angelegenheiten einmischt.
Und jetzt fragen Sie sich vielleicht : „Warum schreibt diese Frau mir das? Was will sie überhaupt?“
Ich will kein Mitleid. Mitleid hilft nicht, und Trauer ist keine Krankheit.
Aber EINMAL das aussprechen, was mich bedrückt – nicht gegenüber einem professionellen Trauerbegleiter oder einem Pfarrer – sondern es einem Menschen sagen, der AUCH trauert , um denselben geliebten Menschen trauert, um den ich trauere. Der ihn gekannt und geliebt hat. Und der ihn vermisst und sich vielleicht auch, genau wie ich, Tag für Tag fragt, warum das alles so gekommen ist und was es für einen Sinn haben soll.
Manchmal fühle ich mich wie in einem Boot, das allein und steuerlos auf dem Ozean treibt.
Wohin die Reise geht, weiß ich nicht – und eigentlich ist es mir auch egal.
Können Sie das verstehen?
Viele Grüße an Sie und Ihre Frau – und es tut mir so Leid, dass ich gerade ihr so gar nichts Ermutigendes schreiben kann.
Aber ich bin mir sicher, dass Sie Beide mich verstehen. ...“

Und tatsächlich bekommt sie eine Rückmeldung. Mario, der älteste Sohn, ruft sie an. Man habe den gesuchten Gegenstand gefunden und werde ihn schicken.
Im Laufe dieses Telefonats fallen zwei Sätze, die sie stutzig machen: „Mein Vater hat mir viel von Ihnen erzählt“.... und „Ein paar Tage nach der Beisetzung habe ich am Himmel über unserem Haus zwei Regenbögen auf einmal gesehen – und da wusste ich, den Beiden geht’s gut...“
Zwei Sätze, die in ihr die trügerische Hoffnung wecken, DOCH noch eine mitfühlende Seele zu finden, die sie in ihrer Trauer auffängt...Sie verleiten sie dazu, sich gegenüber ihrem Anrufer als verwaiste Geliebte zu outen ..
Sie findet die Einladung für das Sechswochen-Seelenamt in ihrer Post. Eine liebevoll gestaltete Karte. Sie freut sich – vielleicht gibt es ja DOCH noch die Möglichkeit, mit den Angehörigen ins Gespräch zu kommen? Sie packt eine Geldspende in einen Umschlag, um sie Mario zu überreichen – für die karitative Organisation, für die die Angehörigen bei der Beisetzung gesammelt hatten.
Später wird sie begreifen, dass diese Einladung nur deshalb zustande gekommen ist, weil sie im Verteiler der Bestatterin war. In Wirklichkeit ist SIE gar nicht gemeint gewesen...
Kurz vor dem Sechswochen-Seelenamt kommt ein Brief mit dem Meditationstuch aus Merlins Nachlass . Kommentarlos – ohne Absender und ohne Begleitschreiben. Aber sie möchte sich trotzdem bei

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Der Bilderzyklus von dem in diesen Aufzeichnungen die Rede ist, kann auf der Facebook-Seite "Eros und Thanatos - Liebe und Tod" eingesehen werden

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