Gute Nacht Merlin - Protokoll eines Trauerjahres - Page 10

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von Cleo Cleo

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nie gesehen hat, mit ihren Frauen, von denen sie auch vieles weiß, was sonst nur gute Freunde der Familie wissen können - die kleine Enkeltochter Laura, die er so besonders liebt und für die sie einmal ein Märchen geschrieben hat.... Teilnahmslos lässt sie den Gottesdienst über sich ergehen, fährt anschließend mit ihrem Mann zu dem wenige Kilometer entfernten Friedhof . Auf dem Weg dorthin denkt sie an einen Ausspruch des Merlin zu Beginn ihrer Freundschaft. Kurz nachdem sie sein wirkliches Alter erfahren hatte und ihn darauf ansprach, sagte er :: „Du wirst nicht an meinem Grab stehen...“ Er werde „mindestens 90“ - und dass seine geliebte Frau vor ihm sterben werde. „Als ich ihr das gesagt habe, hat sie zuerst geweint, aber dann meinte sie, das sei so in Ordnung...“ Und sie hat Recht gehabt damit, denkt SIE jetzt auf dem Weg zum Friedhof... „übrigbleiben ist schlimmer als sterben...“ und „Ach Merlin... Du hast dich geirrt...“ .
(Ihre späteren Recherchen haben ergeben, dass seine Frau tatsächlich VOR ihm gestorben ist – sie war bereits tot, als die Retter sie aus dem Wagen herausholten - ER starb während der Bergungsarbeiten, ohne noch einmal zu Bewusstsein zu kommen.)
Sie setzt sich in der Friedhofskapelle auf den letzten freien Stuhl. Ihr Mann wartet im Wagen auf sie : „Ich habe die beiden ja nicht gekannt... aber lass Dir Zeit... ich bin ja da...“ Nach der Aussegnung der Urnen folgt sie der großen Trauergemeinde bis zum Grab. Zu Füßen eines schönen großen Steins aus weißem Marmor sind zwei Löcher gegraben worden, die für die Überreste der beiden Verstorbenen vorgesehen sind.
Wie betäubt sieht sie dabei zu , wie die beiden Urnen hinuntergelassen werden in die Erde. Aber das ist doch nicht wahr.., denkt sie unklar, während sie schweigend wartet, bis auch der letzte Trauergast gegangen ist. Es kann doch nicht wirklich sein, dass ihr geliebter Freund – dieser schöne und lebensfrohe Freibeuter mit den zärtlichen Händen und dem hinreißenden Lächeln nicht mehr ist – nur noch Asche... das ist doch alles nicht wahr....
Endlich sind alle anderen Trauergäste fort - sie tritt ans Grab, wirft die letzten Blumen aus ihrem Arbeitszimmer und einen kleinen Anhänger mit einem „OM“- Symbol hinein. Es war eins seiner ersten Geschenke: ein Mitbringsel von einer Reise nach Nepal. Sie hatte diesen Anhänger lange getragen und ihn irgendwann, als die Schnur, an der er hing, brüchig zu werden begann, in ihrem Arbeitszimmer an die Wand gehängt. Jetzt liegt er dort unten bei der Urne.
Plötzlich springt sie die Erinnerung an den Wunsch an, den er im Anschluss an ein Seminar über Tod und Sterben nicht nur ihr gegenüber, sondern auch gegenüber seiner Familie geäußert hatte: Wenn er gestorben sei, solle seine Asche bei Cap Fistera , nordwestlich von Santiago di Compostela ins Meer gestreut werden. . Seine Familie habe das abgelehnt, hatte er ihr erzählt und sie hatte gemerkt dass er darüber sehr traurig war. Dunkel taucht in ihr der verwegene Gedanke auf, seine Urne zu stehlen, um seinen Wunsch zu erfüllen... Aber das würde sie nie allein schaffen. Dazu würde sie Verbündete brauchen. Aber wer könnte das sein?
Sie wendet sich den Hinterbliebenen zu... dieser großen Familie gut situierter Bürger..spricht zwei Verse aus dem Gedicht „Letzte Worte“ von Annette von Droste-Hülshoff , das mit den Worten endet: „Wenn nächtens seine Seraphsflügel der Friede weht durchs Weltenreich, dann denkt nicht mehr an meinen Hügel - denn von den Sternen grüß ich euch..“
Dann drückt sie jedem die Hand, dankt dafür, dass sie kommen durfte und verlässt den Friedhof.
Nach der Beisetzung und bevor sie beide weiterfahren nach Thüringen zu einem Seminar ihrer Partei, fährt Ihr Mann den kleinen Umweg zum Haus der Verstorbenen - dann zur Unfallstelle. Sie sieht mit eigenen Augen diese harmlos wirkende Nebenstraße, die auf die stark befahrene Landstraße mündet – diese Kreuzung, die zumindest von der einen Seite her so übersichtlich und weithin einsehbar ist. Und sie sieht, dass diese verhängnisvolle Nebenstraße hinter dem Unglücksort irgendwo ins Nirgendwo führt.. zur Sackgasse wird. Sie stellt eine Kerze auf... und fragt sich seitdem, wie es möglich war, dass ihr geliebter Freund diesen verhängnisvollen Fehler hat machen können...
Diese Frage wird für sie in den kommenden Monaten zum beherrschenden Thema ihres Lebens. Sie versucht, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um „die Wahrheit“ herauszufinden. War er WIRKLICH der Unglücksfahrer gewesen? Vielleicht hatte er ja auf dem Beifahrersitz gesessen? Immerhin war es der Wagen seiner Frau, mit dem die beiden unterwegs gewesen waren und ganz offensichtlich hatten sie es eilig gehabt. Denn sie hatten sich für DIESEN Wagen entschieden, „weil er gerade vor der Tür stand“ - und nicht in der Garage .Dort stand der große silberfarbene Daimler , mit dem der Merlin normalerweise fuhr. Auf den Luftaufnahmen die man im Internet über Google Earth aufrufen kann, ist der kleine rote Wagen sogar deutlich zu erkennen. Anscheinend hat er immer vor der Tür auf der Straße gestanden.
Der schöne silberfarbene Daimler... SEIN fliegender Teppich... so hatte sie ihn genannt...Ein repräsentativer Wagen mit seinem Monogramm und dem Datum seines Geburtstages auf dem Nummernschild. Er hatte ihn sich vor vielen Jahren gekauft, als er einmal im Lotto gewonnen hatte – und sich damit einen Jugendtraum erfüllt. Vorher habe er immer Kombiwagen gefahren, wegen seiner großen Familie – so hatte er einmal erzählt.
Wie oft hatte sie in diesem silberfarbenen Wagen auf dem Beifahrersitz gesessen und sich immer sicher und geborgen gefühlt: Unterwegs zu einem heimlichen Stelldichein in das Motel an der Autobahnabfahrt in Rheda-Wiedenbrück, weil er sich zunächst scheute, sie zu Hause zu besuchen.
Unterwegs an schönen Sommertagen zu dem verschwiegenen Platz im Wald, nicht weit von ihrem Zuhause ... Dort hatten sie sich an einer verborgenen Stelle unter die Bäume gelegt und sich geliebt... sie weiß nicht mehr wie oft in diesen vergangenen zwölf Jahren.. Unterwegs mit ihm im tiefsten Winter irgendwo im Rheinland oder im Ruhrgebiet, wenn er ein Seminar besuchte und sie ihn des abends in seinem Tagungshotel traf.
Und sie

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Der Bilderzyklus von dem in diesen Aufzeichnungen die Rede ist, kann auf der Facebook-Seite "Eros und Thanatos - Liebe und Tod" eingesehen werden

Prosa in Kategorie: 
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