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Meistens blieb sie noch im Bett liegen und schaute ihm zu, wenn er sich anzog und sich sorgfältig zurecht machte für den Tag. Sie liebte die geschmeidige und lässige Art, in der er sich bewegte – „wie ein schöner, großer Kater, der sich putzt“, dachte sie, wenn sie ihm zusah. Sie vermieden es, gemeinsam gesehen zu werden – deshalb wartete sie, bis er vom Frühstück zurückkam, dann verabschiedeten sie sich zärtlich von einander, er ging in sein Seminar und sie verließ verstohlen das Hotel.
Manchmal dachte sie zu Hause kurz vor dem Einschlafen an den Weg, den sie zurücklegte, um zu IHM zu kommen. Die Bahnfahrt in den beginnenden Abend hinein, die letzte Strecke mit dem Bus bis zur Haltestelle beim Tagungshotel, der Weg durch die dunkle Straße - die Runde über den Parkplatz und das Aufatmen, wenn sie seinen Wagen dort fand. Und immer genoss sie beim Hinübergleiten in den Schlaf das Gefühl der Geborgenheit, das sie auch in dem Augenblick empfand, wenn sich die Tür des Hotelzimmers hinter ihr schloss.
Anfang Dezember 2015 trafen sie sich so zum letzten Mal. Wenn sie geahnt hätten, dass diese Begegenung die letzte dieser Art sein würde – hätten sie sie dann anders gestaltet? Sie wollte aus diesem Treffen etwas Besonderes machen: diesmal erwartete sie ihn gefesselt und mit verbundenen Augen auf dem Bett – bekleidet nur mit einem Hemdchen aus schwarzer Seide...Irgendwann hörte sie Schritte – dann sein leises Lachen – und dann spürte sie seine zärtlichen Hände...
Es war ein De ja vu - die Erinnerung an ein Rendezvous in einem Bielefelder Hotel vor vielen Jahren, in dem sie ihn so überrascht hatte. Sein Lachen damals: „Da kommt man ahnungslos von einem Seminar – und DANN SO ETWAS...“ Seine zärtliche Liebesumarmung und sein glückliches und stolzes Lächeln, als er ihr später behutsam die Binde von den Augen nahm. Denn er wusste, dass es niemanden gab, dem sie einen solchen Vertrauensbeweis schenken würde. NIEMANDEN – nur IHN... Und auch jetzt, nach so vielen Jahren war diese Geste für ihn noch etwas Besonderes – er empfand sie als Auszeichung.
Aber die Freundschaft zwischen ihnen war nicht ungetrübt, denn es gab auch immer wieder Phasen, in denen ihn sein Gewissen plagte und er sagte, „das alles dürfe gar nicht sein“. So zu Beginn des Jahres 2005, als er drauf und dran war, eben diese erste gemeinsame Nacht, die dann doch so prägend für sie wurde, abzusagen. In einem Anflug von Ärger löschte sie damals alle seine SMS und viele seiner Mails -und bedauerte das später zutiefst. Aber diese Anwandlungen von schlechtem Gewissen dauerten nicht allzu lange – und irgendwann sagte er ihr, dass sei SEINE Angelegenheit. Sie verstand und sprach ihn nicht mehr darauf an – und sie begriff auch sehr schnell, dass das die beste Art war, ihn zu halten. Gewähren lassen, keine Fragen stellen, nichts fordern... Wenn sie manchmal darüber klagte, wie sehr sie sich sehne und wie traurig sie sei, dass sie einander nur so selten sehen könnten, dann lächelte er immer, schüttelte den Kopf und sagte :“ Spiel jetzt nicht das Arme Ich. ...“
Zur Jahreswende 2005/2006 schrieb er ihr in einer Mail, die ihr die Tränen in die Augen trieb:
“.....
Was geschieht immer mit uns??? Viele Fragezeichen, denn sie stimmen nicht
mit meiner Lebensphilosophie überein. Wenn ich dann in die liebenden Augen
meiner Frau schaue, komme ich mir sehr schäbig vor, geschehen gestern und
heute. Wenn ich daran denke wie alles begann und es mit einem NEIN von mir zu
keinem weiteren Date gekommen wäre. ...Die Freude in Deinen Augen wenn wieder einmal eine gestohlene Stunde unser war. Dennoch immer wieder die quälende Frage, "Was tust Du da?? Das darfst Du nicht!"
Ich bleibe die Antwort schuldig und laß es geschehen, bin ohne Entscheidung.
Wieder etwas was ich glaube nicht zu sein. Je weiter ich denke kommt Schmerz
auf und dennoch will ich so das Jahr nicht enden lassen.
Zunächst wünsche ich Dir einfach Glück, Liebe für das Jahr 2006 und danke
für Deine guten Wünsche. Nehme mich dabei heraus und bleibe dennoch "Dein
wegbegleitender Freund".
Lange haderte sie mit dem Schicksal, dass es sie beide nicht eher zusammengeführt hatte. Bis er ihr im Jahre 2007 einmal ein Blatt mitbrachte, auf das er die Passfotos aus seinem vergangenen Leben kopiert hatte. Sie schaute in sein Gesicht, wie es sich im Laufe der Jahre veränderte - und schrieb ihm dann eine liebevolle Mail. An den Anfang stellte sie ein Zitat von Hugo von Hofmannsthal - den Monolog der Marschallin aus dem Ersten Akt des „Rosenkavalier“. Darin heißt es:
"Die Zeit ist ein sonderbar Ding... Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie: sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie. Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder. Lautlos, wie eine Sanduhr. ... Allein man muss sich auch vor ihr nicht fürchten. Auch sie ist ein Geschöpf des Vaters, der uns alle geschaffen hat."
Sie fuhr fort:
„Ein geliebter Mensch, den ich Tag um Tag und Jahr um Jahr um mich habe, altert nicht. Das heißt: Ich sehe nicht, wie er altert - denn der Alterungsprozess ist leise, unaufhaltsam wie rieselnder Sand.
Ein geliebter Mensch, den ich erst auf dem Zenith seines Lebens kennen gelernt habe, hat zunächst einmal keine Geschichte. Ich sehe ihn so ,wie er JETZT ist - und so erkenne und liebe ich ihn. Was bedeutet es, wenn dieser so geliebte Mensch mir einen Blick in seine Vergangenheit gewährt? Zunächst einmal einen Vertrauensbeweis. Vielleicht die leise Frage: „Würdest Du mich auch SO gesehen haben,wie du mich JETZT siehst, wenn wir einander eher begegnet wären?“ Lass sehen...
der GANZ junge Mann mit dem dichten Lockenkopf - ein wenig pausbäckig... er wäre mir vielleicht ZU brav gewesen... aber vielleicht hätte er mit mir geflirtet, hätte versucht, mich zu erobern...leicht, spielerisch... ob ich mich verliebt hätte?
Der ernsthafte
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Der Bilderzyklus von dem in diesen Aufzeichnungen die Rede ist, kann auf der Facebook-Seite "Eros und Thanatos - Liebe und Tod" eingesehen werden