Seiten
Jahren im Krieg mit Eurasien
befindet. Mitten im Buch verändert sich diese Weltlage jedoch ([Orwell2008],
Seiten 218-219):
```
Am sechsten Tag der Haßwoche, [...] nach sechs solchen Tagen, als der mächtige
Orgasmus seinem Höhepunkt entgegenbebte und der allgemeine Haß auf Eurasien
sich in ein solches Delirium gesteigert hatte, [...], genau in diesem Moment
also war bekanntgemacht worden, dass sich Ozeanien keineswegs im Krieg mit
Eurasien befand. Ozeanien befand sich im Krieg mit Ostasien. Eurasien war ein
Verbündeter. Natürlich hatte man nicht zugegeben, dass eine Veränderung
eingetreten war. Es wurde nur urplötzlich und überall zugleich bekannt, dass
Ostasien und nicht Eurasien der Feind war.
```
Auf einer Demonstration von aufgebrachten Bürgern während der Hasswoche findet
der Wechsel des Kriegsgegners übergangslos statt:
```
Alle paar Augenblicke kochte der
Volkszorn über, und die Stimme des Redners ertrank in wildem tierischem
Gebrüll, das zügellos aus tausend Kehlen brach. [...] Die Rede mochte zwanzig
Minuten gedauert haben, als ein Bote auf das Podium hastete und dem Sprecher
einen Zettel zusteckte. Er entfaltete ihn und las, ohne seine Rede zu
unterbrechen. Weder an seiner Stimme noch an seinem Gebaren, noch am Inhalt
seiner Worte änderte sich etwas, doch auf einmal lauteten die Namen anders.
Ohne dass auch nur ein Wort gefallen wäre, durchlief die Menge eine Welle des
Verstehens. Ozeanien befand sich im Krieg mit Ostasien! [...] Die Transparente
und Plakate, mit denen der Platz dekoriert war, stimmten nun nicht mehr! Gut
die Hälfte zeigten die falschen Konterfeis. Sabotage!
```
Sabotage! So ähnlich mussten es die PR-Strategen der Unternehmen in Zeiten von
C sehen. Jemand hatte die Plakate und Schilder vertauscht und sie zeigten nun
die falsche Moral an. Nicht mehr die Selbstoptimierung zum Wohle der
Wirtschaft war das hehre Ziel. Die Selbstkasteiung war es nun! Alles musste
stillstehen und keiner durfte rausgehen.
Von einer Burgmentalität
Was jetzt vor allem zählte waren der Gehorsam und die Isolation. Mindestens
1,5 Meter Abstand halten sollte man. Ich dachte dabei zunächst an meine
Erfahrungen auf dem Fahrrad im Straßenverkehr: Oft genug hielten diese
vermaledeiten Autofahrer den Abstand beim Überholen nicht ein. Aber nein, das
war gar nicht gemeint. Ein sozialer Abstand war gemeint. Nein lieber Leser,
nicht der Abstand zur reicheren Gesellschaft! Es ging um ganz profanen
körperlichen Abstand. Man sollte niemandem mehr zu Nahe kommen.
Dieser neue Zustand passte zu dem Internetkommentar, den ich noch zwei Wochen
zuvor gelesen hatte: Jeder sollte nun seine eigene Burg sein, die Zugbrücke
hochziehen und niemanden mehr hereinlassen, bis draußen im Lande die Seuche
ein Ende gefunden hat. Dazu passte auch das Hamstern in den Supermärkten. Doch
niemand sprach mehr vom Immunsystem, welches man pflegen und stärken sollte.
Von gesunder Ernährung, die die Grundlage für einen gesunden Körper bildet.
Keiner sprach von frischer Luft die man brauchte oder von Sonne nach diesem
langen Winter, um den Körper wieder zu beleben. Ausgerechnet zum
Frühlingsbeginn sollten sich nun alle Menschen einsperren. *Ein gesunder Geist
in einem gesunden Körper* war auch nicht gefragt. Die Freude mit Menschen
gesellig zu sein wurde mit einer Option auf eine Depression eingetauscht. Ich
dachte an unsere vielfältigen Zivilisationskrankheiten und wie diese sich wohl
in Folge dieser neuen Burgmentalität so vieler Mitbürger in der näheren und
ferneren Zukunft entwickeln würden. Diese Viren-Katastrophe schien mir mit
einer zusätzlichen Katastrophe mit Ansage bekämpft zu werden. Wenn eine
reichen würde. Denn das Ausmaß der Wirtschaftskatastrophe würde sich auch erst
allmählich offenbaren.
In der Anfangszeit der Berichterstattung rund um die Königsgrippe wurden
Schreckensszenarien gemalt, die zum Inhalt hatten, dass sich das Virus
vermutlich mehrere Tage auf Gegenständen halten und immer noch Menschen
anstecken könnte. Mittlerweile hatte man sich darauf verständigt, dass es wohl
doch nur die Tröpfcheninfektion sei, über die man sich die Krankheit einfangen
konnte. Daher wäre nun dieser soziale Abstand, zu neudeutsch „social
distancing“, die einzige Rettung. Nur dumm, dass in unserer durchoptimierten
Wirtschaft kein überschüssiger Platz eingeplant war. Platz war Geld! Das
führte dazu, dass wie schon bislang, beim Einkaufen die größten Veränderungen
im Alltag zu spüren waren. Wenn die Pandemie der Krieg war, so war der Gang
zum Supermarkt ein einzelnes Gefecht. Mittlerweile hatten alle Supermärkte und
auch viele Bäcker und kleinere Lebensmittelgeschäfte ausführliche
Bedienungsanleitungen an ihren Eingängen aufgestellt, die einem erklärten, wie
man einzukaufen hatte. Es galt immer schön Abstand zu halten und niemanden
anzuhusten oder anzuniesen. Wer sich krank fühlte oder gar eine
Atemwegsinfektion oder Fieber hatte, hatte zu Hause zu bleiben. Es galt zügig
einzukaufen und man hatte sich nicht unnötig in den Geschäftsräumen
aufzuhalten. Und man mochte doch bitte die digitalen Zahlungsmittel nutzen und
nicht dieses unhygienische Bargeld. Herr Schäuble hatte es schon vor Jahren
gewusst, dass dem Bargeld nicht zu trauen war. Er würde sicher gerade über
diesen Gesichtspunkt der Virenkrise jubilieren. Ich jedoch beobachtete
verzweifelte Renter, die ihre EC-Karten zehn Mal im Kreis drehten, bis der
Kassierer schließlich beim Einführen des Kartenwunders behilflich war. An den
Kassen wurden notdürftige Markierungen am Boden angebracht, die den 1,5 Meter
Abstand in der Warteschlange regeln sollten. Je nach Geschäft wurden
unterschiedliche Schutzaufbauten, meist aus, Plexiglas rund um das
Kassenpersonal herum konstruiert, die das Personal vor den rücksichtslos
hustenden und niesenden Kunden schützen sollten. In manchen Geschäften wurde
eine Art Barrikade vor Bäcker-, Fleisch- und Käsetheke aufgebaut, damit die
Kunden gar nicht mehr erst in die Nähe der Mitarbeiter und Waren gelangen
konnten. Das machte die Kommunikation und die Warenübergabe dann allerdings
umso interessanter.
Bei vielen Mitbürgern schien nur die anfängliche Berichterstattung hängen
geblieben zu sein: Die Panik vor der Schmierinfektion über Gegenstände. Es
waren viele Einweghandschuhe zu sehen. Leider nicht nur an den Händen, sondern
auch rund um die Supermärkte auf dem Boden als Müll. Eine Atemschutzmaske
wäre nach aktueller Leitlinie in den Medien konsequenter gewesen. Einige
trugen auch diese. Doch so gut wie niemand hatte sich für beides entschieden.
Scheinbar gab es eine Grenze der Zumutungen, die sich der Bundesbürger, selbst
unter dem Einfluss von Panik und Hysterie, anzutun bereit war. Derweil wurde
der Umgang mit dem einen oder anderen Mitarbeiter im Schlachtfeld Supermarkt
immer schwieriger. Eine mir gut bekannte Verkäuferin ließ es nicht mehr zu,
dass ich ein verpacktes Brot aus ihren Händen entgegennahm, indem ich es am
anderen Ende anfasste. Das Brot habe erst auf der Theke zu Liegen zu kommen,
bevor ich es anfassen dürfe, erklärte sie mir. Eine Kassiererin weigerte
sich, mir den sorgfältig hingestreckten 10-Euro-Schein aus der Hand zu nehmen.
Auch dieser musste erst auf der Fläche zu Liegen kommen. Man konnte ja nie
wissen, auf welche perfide Weise sich diese Viren noch ausbreiten mochten.
Abseits der Supermärkte konnte ich mittlerweile auch positive Anteile an
dieser Gesellschaftsverwandlung finden. Es herrschte erheblich weniger
Straßenverkehr und der Flugverkehr war fast vollständig zum Erliegen gekommen.
Dieser April hatte einen strahlend blauen Horizont im