Leben in Zeiten der Massenpsychose - Page 12

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Menschen starben - und das nicht erst seit C.
Scheinbar konnten viele Menschen das nicht einordnen, diese Toten mussten nun
plötzlich alle irgendwie mit dem neuen Killervirus in Verbindung stehen und
niemand sollte nun mehr sterben müssen. Aus meiner Sicht zeigten die Eliten
gerade eindrucksvoller als jemals zuvor, dass ihr Status nicht gerechtfertigt
war. Die hochkarätige Ausbildung, die Besonnenheit und Weisheit, die sie dem
gemeinen Volk voraushaben sollte, um Schaden von Land und Leuten abzuhalten,
hatten sie nicht. Sie verhielten sich letztlich nicht anders als eine panische
Meute mit einer gekünstelteren Sprache. Und mit der Macht diese Panik in der
ganzen Gesellschaft weiterzuverbreiten und Zwang auszuüben.

War ich wirklich einer der wenigen, der ein Gefühl für „die Zahlen“ hatte, die
die Größenordnung ganzer Nationen betrafen? Ohne herzlos erscheinen zu wollen:
Wer einen Millionenstaat führt, muss nüchterne Entscheidungen treffen und
nicht gefühlsmäßig aufgeladene. Diesbezüglich fühlte mich leicht veralbert
wenn Zeitungen titelten: Jetzt schon 60 C-Tote in Portugal. 60 Tote? In
welchem Zeitraum? Diese Toten wurden seit Tagen und Wochen einfach nur
aufaddiert. Ich informierte mich über das normale Sterben in Deutschland und
lernte, dass hier im Mittel über 2.000 Menschen jeden Tag an irgendetwas
starben. Doch fürchten Sie nicht lieber Leser: Es werden auch etwa genauso
viele Menschen jeden Tag neu geboren. Diese Betrachtungsweise hatte für mich
etwas behagliches. Das war der Kreislauf des Lebens, ein ständiges Werden und
Vergehen. Aber in den Massenmedien war für diesen Hauch Spiritualität kein
Platz. Ein solcher Vergleich wurde dort nicht gezogen. Die Zahlen wurden nicht
ins Verhältnis gesetzt. Es musste alles schockierend, drastisch und panisch
sein. Und nur folgerichtig waren die verhängten Maßnahmen des Staates und das
Verhalten in der Bevölkerung unverhältnismäßig.

In meiner Gesellschaft offenbarte sich gerade, dass ein wohl gehütetes Tabu,
nämlich der Tod, sie verstörte. An der Oberfläche waren wir aufgeklärte
technisch-wissenschaftliche Menschen. Aber wenn man genau hinsah, konnte man
sehen, dass dieser technischwissenschaftliche Fortschritt zwar dazu geführt
hat, dass wir in atemberaubender Geschwindigkeit die Resourcen des Planeten
zum Fenster hinauswerfen konnten. Oder uns mit unvorstellbaren Waffen
gegenseitig das Licht auspusten. Ja sogar im Weltraum konnten wir ein paar
Vertreter unserer Spezies herumturnen lassen, damit sie sich diese Ausbeutung
und Zerstörung des Planeten von weiter oben aus ansehen konnten. Doch zu den
alten Fragen, die die Religionen zu beantworten versuchten: Wo kommen wir her?
Warum sind wir hier? Wo gehen wir hin? Gibt es eine Seele? Ein Leben nach dem
Tod? Auf all sowas hatte die technisch-wissenschaftliche Welt auch keine
befriedigende Antwort. Nur eine Menge Ablenkung und Betäubung. Und einen
Alleinherrschaftsanspruch.

Doch selbst die noch immer mächtigen Kirchen, wie die katholische Kirche,
schien das Geschehen nicht auf den Plan zu rufen. Ohne einen größeren
wahrnehmbaren Protest waren nun nämlich im Rahmen des Gesundheitsschlafs auch
die Gottesdienste im Lande verboten und die Osterfeierlichkeiten abgesagt
worden. Ein Vorgang, der mir noch nicht einmal aus den düstersten Zeiten der
deutschen Geschichte bekannt war. War es möglich, dass auch die
Kirchenvertreter selbst Angst hatten, an einer schweren Lungenerkrankung
sterben zu müssen, ohne Zugang zu der modernen Hochleistungsmedizin zu haben?
So wie man früher Angst hatte ohne die letzte Salbung und die letzte Beichte
aus dem Leben zu treten? Wo sich der wahre Christ im Kern freuen sollte, da er
laut seiner Lehre nun die Option hatte, ins Himmelreich aufzusteigen, da
fürchtete sich der moderne Technikmensch, nicht noch die letzte Pille in den
Mund und den letzten Schlauch in den Rachen gelegt zu bekommen. Irgendwie ging
es ja schließlich immer weiter, schienen sich viele Menschen zu denken. Man
war so weit in der Medizin. Wirklich sterben? Musste man das heutzutage noch?

Das war das Versprechen, welches die Politiker in diesen Tagen gaben. Wenn wir
die Beschneidung unserer Grundrechte und die geforderte Selbsteinsperrung brav
befolgen würden, so würde uns allen ein sicherer Platz auf der
Intensivstation, angeschlossen an all diese faszinierenden Geräte, zur
Verfügung stehen, wo wir dann unseren letzten Atemzug unter Aufsicht von Arzt
und Maschine tun dürfen würden. Oder der letzte Atemzug würde sogar *für* uns
getan, wenn die passende Maschine im Spiel war. Ich fragte mich, wie viele
alte Menschen, die in den letzten Jahren regelmäßig ihre Patientenverfügungen
immer auf dem laufenden gehalten hatten, weil sie keinesfalls qualvolle
lebensverlängernde Maßnahmen über sich ergehen lassen wollten, gerade davor
Angst hatten, diesen Platz auf der Intensiv *nicht* zu bekommen.

Der technisch-wissenschaftliche Staat mit dem wir es heute zu tun haben,
schafft es zwar nicht wirklich, seine Bevölkerung glücklich zu machen. Er
bietet vor allem eine größere Palette an Ersatzbefriedigungen und
Verdrängungsmechanismen an. Man wird dazu gedrängt 40 Stunden in der Woche zu
arbeiten, um Produkte und Dienstleistungen zu erschaffen, die vielfach gar
nicht notwendig wären. Gleichzeitig werden Altenheime und Krankenhäuser wie
Fabriken mit Gewinnoptimierung betrieben. Insgesamt lebt man schon ziemlich
entfremdet von den natürlichen und sozialen Bedürfnissen des Menschen.
Manches oberflächlich Gute in dieser Gesellschaft stellt sich beim genaueren
Hinsehen als im Kern faul heraus. Die Maßnahmen rund um C sollten die
mangelnde Glücksfähigkeit meiner Gesellschaft nun wohl endgültig zementieren.
Nicht einmal mehr normal und unverkrampft miteinander umgehen sollte man jetzt
mehr können. Alles nur, damit man am Ende seinen Platz des Elends in der
Altenpflege einnehmen kann und nicht früher stirbt, als unbedingt notwendig.
Gewissermaßen war es auch die Perfektionierung des Neoliberalismus. Man sitzt
zu Hause und dient nur noch dem Wirtschaftssystem. Interaktionen mit Kollegen
finden nur noch zu gezielt beruflichen Zwecken im virtuellen Raum statt. Das
Haus verlässt man nur noch aus triftigem ökonomischen Grund. Die „Welt da
draußen“ entnimmt man dem Fernseher oder dem Mobiltelefon.

Eine schwierige Zeit in Europa und der Welt

Jetzt da sich der größte Teil Europas entschlossen hatte, ähnlich drastische
Maßnahmen zu erlassen, ging es nur noch um Einigkeit und Entschlossenheit in
dieser „schwierigen Zeit“. Ein weiterer Fall für das Unwörterbuch. Die
Massenmedien blickten ungläubig und rieben sich die Augen, wenn es da noch
Länder gab, die nicht hinreichend stark an der Notbremse gezogen hatten. Was
war da los in Schweden, in Großbritannien, in Russland? Die machten gar nicht
richtig mit? Wollte man dort die Bevölkerung auf dem Altar von
Wirtschaftsinteressen oder wegen falsch verstandener Freiheitsliebe opfern?
Letzteres konnte sicherlich für den „Unrechtsstaat“ Russland ausgeschlossen
werden, kein Zweifel. Was die Gründe auch sein mochten, so der Tenor, das
konnte nicht lange gut gehen. Man rechnete in dieser Zeit immer in Tagen oder
wenigen Wochen die ein Land X von einem Land Y noch entfernt sei. Also etwa,
dass Deutschland zwei Wochen Vorsprung vor Italien habe. Dann würde sich hier
die gleiche Katastrophe abspielen wie dort - wenn wir nicht gehorchen würden.
Die Sanduhr lief oder war es eher eine tickende Bombe wie in einem aufregenden
amerikanischen Actionstreifen?

Ich entschloss mich, mich

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