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Angebot, ganz ohne von
Kondensstreifen durchkreuzt zu sein. So etwas hatte ich vermutlich mein ganzes
Leben noch nicht gesehen, oder ich hatte einfach nur vergessen, wie schön es
einmal gewesen war. Doch war wirklich eine gesellschaftliche Manie notwendig,
um diese Wirkung zu erreichen? Ich konnte mich auf diese Weise nur bedingt an
den positiven Seiteneffekten erfreuen. Es war, als ob ich unverhofft durch
Geld aus einem Verbrechen reich geworden wäre.
„Die Welt steht still“ konnte man in allen Gazetten des Landes lesen. Bilder
vom autofreien Bergamo, Bilder vom autofreien New York. Das war ausnahmsweise
einmal etwas, dass ich mit meiner eigenen Realität in Einklang bringen konnte.
Die Menschen verhielten sich anders und die Menschendichte in der Stadt war
allerorts geringer denn je. Doch der Schein trügte: An der Oberfläche stand
alles still; aber im Hintergrund arbeitete die Globalisierung weiter mit
voller Kraft. Die Waren mussten herbeigeschafft werden. Der gute Herr
Minister Seehofer betonte in einer Pressekonferenz: Die Grenzen seien
geschlossen, doch ausdrücklich nicht für den Lieferverkehr und auch nicht für
Menschen, die im Ausland ihrem Erwerb nachgingen. War das nun nicht endlich
das ideale neoliberale Europa? Diese Freizügigkeit und Reisefreiheit war ja
doch immer nur ein Köder gewesen, um das eigentliche Projekt, den gemeinsamen
Wirtschaftsraum, schmackhaft zu machen. Jetzt gab es nur noch den gemeinsamen
Wirtschaftsraum. Auf wiedersehen kultureller Austausch. Auf wiedersehen
einfacher Urlaub. Konnte man jetzt wenigstens auch die Zwangsjacke „Euro“
beseitigen, da man ihn im Urlaub nicht mehr brauchte? Mit den geschlossenen
Grenzen in Europa hatte man nun das Bild der Burg auch im Großen erreicht. Es
wurde abgeriegelt, was abzuriegeln ging.
Entsprechend den Umständen war dies nun auch die große Stunde aller
Lieferketten. Der Internetversand aller möglichen Waren war nun mehr denn je
im Aufstreben begriffen. Selbst die besten Restaurants ließen sich in ihrer
Verzweiflung dazu herab, Hauslieferungen anzubieten. Bernhard gegenüber
scherzte ich: Wenn man sich in diesen Zeiten völlig frei bewegen will, muss
man sich nur als DHL-Paketbote mit einer Amazon-Mütze verkleiden. Es wäre
völlig plausibel und man hätte praktisch überall zutritt. Der Konsum musste
weitergehen. Wenn man zu Hause eingesperrt war, vielleicht mehr denn je.
In der ersten Woche AB kamen aus verschiedenen Richtungen meiner Familie und
meines Bekanntenkreises vorsichtige Nachfragen: „Geht ihr eigentlich noch
Radfahren?“, „Geht ihr noch Spazieren?’", „Kann man noch in die Innenstadt
gehen?“ Es war ein dezentes Vortasten, ob man nicht vielleicht gleich im
Kittchen landete oder einer peinlichen Befragung unterzogen wurde. Doch ich
konnte solcherlei nicht berichten. Die Innenstadt hatte ich zwar gemieden. Wo
ich mich aufhielt, war die Bewegungsfreiheit jedoch gegegeben. Auch mit
Bernhard habe ich Spaziergänge unternommen, was nach den Bestimmungen gar
nicht mehr erlaubt war. Wer sollte denn auch alle Spaziergänger kontrollieren?
Es blieb bei einer Drohkulisse von patroullierenden Polizeifahrzeugen im
Stadtbereich und dem Sprengen von besonders auffälligen Versammlungen.
Nachdem sich viele Unternehmen zu Beginn der „Krise“ noch unbürokratisch und
solidarisch gegeben hatten, nahm ich hier mittlerweile eine Veränderung wahr.
Anfänglich gemachte Zusagen bezüglich Rückerstattungen wurden nicht
eingehalten. Den Firmen drohte eine Liquiditätskrise, so dass sie einfach
beschlossen hatten, trotz ausgefallener Leistung, das bezahlte Geld
einzubehalten. Auch die deutsche Politik hatte sich auf eine „Gutscheinlösung“
eingeschossen. Die Bürger mochten sich doch bitte mit Gutscheinen begnügen.
Wenn man das Grundrecht mit Füßen tritt, wieso sollte man dann nicht aus dem
stegreif das Vertragsrecht mit Füßen treten, dachte man sich wohl. Ich wäre
sogar mit dieser Lösung einverstanden gewesen, wenn sich die Firmen mit einer
entsprechenden Bitte an mich gewandt hätten. Doch die Selbstverständlichkeit,
mit der mein Geld einbehalten werden sollte, erschien mir unverschämt. Auch
hatte ich nicht den guten Glauben, dass dieses einbehaltene Geld den
gewöhnlichen Angestellten zu Gute kommen würde. Teilweise sollten die
gebeutelten Unternehmen auch vom Staat gerettet werden. Das war eine Übung,
die den Bürgern ja schon aus der letzten großen Krise bekannt gewesen sein
dürfte. So würden wir als Bürger also letztlich einige unserer
Rückerstattungen indirekt selbst bezahlen.
Die Herrschenden schienen nach der beispiellosen Spirale der Verschärfungen
derweilen endlich zufrieden zu sein mit ihrem Werk. Jetzt galt es nur nicht
nachzulassen. Von Entspannung keine Spur. Erinnern Sie sich noch an die
„Politik der ruhigen Hand“ von Gerhard Schröder, oder dem berühmten „Wir
navigieren in dieser Krise auf Sicht“ von derselben Frau Merkel, die uns auch
heute noch vorsteht? Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich einmal nach
solchen stumpfsinnigen Parolen zurücksehnen würde. Diese Zeiten des vorgeblich
angepassten Reagierens waren vorbei. Hier wurde nun voll aufgedreht bzw. im
doppelten Sinne des verordneten Gesundheitsschlafes: *abgedreht*.
Ein Blick ins exotische Ausland
Im europäischen Ausland waren derweil fast alle verbliebenen gallischen Dörfer
gefallen. In Großbritannien hatte man sich mit Verspätung (*tödlicher*,
versteht sich von selbst) den gängigen „Maßnahmen“ angeschlossen. Russland
und auch die Balkanstaaten hatten jeweils nach einigem Zögern ihre eigenen
Varianten der „Maßnahmen“ umgesetzt. Zu Hause in Deutschland waren wir mit der
AB noch relativ milde gestraft. In Italien war das Volk weiterhin rigoros zu
Hause eingesperrt und dies galt auch für einige weitere Länder. Übrig blieb
nurmehr noch Schweden, wo wenig Zwang eingesetzt wurde und man auf freiwillige
Einschränkungen in der Bevölkerung setzte. Aus einem entsetzten Artikel einer
Gazette erfuhr ich, dass man sich in Stockholm noch ganz normal ins Restaurant
setzen konnte. Wie hoch mochte der Blutzoll da nur werden? Mord am eigenen
Volk!
Der absolute Ausnahmefall fand jedoch in einer selten von uns bedachten Region
statt. In Weißrussland, wo nach lange einstudierter Sprachregelung der
deutschen Leitpresse der „letzte Diktator Europas“ Lukaschenko seit über 20
Jahren sein Unwesen trieb. Dieser Mensch, der selbstherrlich über die
ehemalige Sowjetrepublik herrschte, verweigerte sich starrköpfig jeglichen
drastischen Maßnahmen. Das wurde von den hiesigen Medien nur mit Hohn, Spott
und den größten Bedenken quittiert. Nähere und sachliche Details waren jedoch
nicht in Erfahrung zu bringen. Dass ich schon in solch ungewohnte Richtungen
blicken musste, um einen Hoffnungsschimmer zu erhaschen, machte mich
nachdenklich. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland
schien man damals noch zu wissen, wohin man sich flüchten konnte, um -
wenigstens vorläufig - der neuen Ordnung zu entkommen. Sofern man über die
Grenzen durfte und die Mittel dazu hatte. Meine eigenen Optionen in Zeiten
von C schienen mir aktuell stärker beschränkt zu sein als seinerzeit.
Ich beschäftigte mich näher mit Weißrussland. Eine Übersetzung eines
russischen Artikels ins Deutsche half mir schließlich weiter. Ganz so
einfältig klang das dort von Lukaschenko wiedergegebene nicht, wie es meine
einheimische Presse mir vermitteln wollte. Lukaschenko sah eine
Massenhysterie ausgebrochen. Eine Notwendigkeit für flächendeckende
Einschränkungen konnte er nicht erkennen. Er handle in Übereinstimmung mit
Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation und sein Staat greife dort ein,
wo Erkrankungen gemeldet wurden und isoliere die Beteiligten. Mit Blick auf
das Ausland meinte er, es würden wohl gerade einige Machthaber die Gunst der
Stunde nutzen, um