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Freien. Es mag
heute zwar unter denen, die den historischen Zusammenhang nicht überblicken,
den einen oder anderen Nachzügler geben, der noch zu Fuß geht, obwohl er - wie
er womöglich schon andeutet - ein Auto „sich durchaus leisten könnte“. Der
Kollege, der zu ihm sagt: „Ohne Auto ist man doch ein halber Mensch!“, übt
einen durchaus „moralischen“ Druck auf ihn aus, nicht aus der Reihe zu tanzen.
Es gibt sehr wohl so etwas wie ein Ethos des technischen, leib-fernen
Menschen, das auf keine andere Weise sich durchsetzt als jedes andere Ethos
auch: durch Verpönung und Verspottung derer, die ihm zuwiderhandeln.
Schließlich auch hat ein jedes Ethos seine realen Vorbilder und Tugendbolde.
Über einen berühmten zeitgenössischen Dichter konnten wir lesen:
„...körperliche Bewegung vermied er, er war fast nur im Wagen unterwegs.“. Der
Anschein es gebe keine Moral, die den Bewegungstrieb abwertet, kommt höchstens
von daher, dass es (zumindest heute) kein entsprechendes Verbot gibt, das
obendrein religiös formuliert wäre. Das besagt aber nichts gegen die
Vorbildlichkeit der Abneigung zu laufen. Sie gilt soviel wie eine
„innerweltliche“ Norm. Diese verschwiegene Moral der Bewegungsaskese schließt
zudem mit der herrschenden Geschlechtsmoral zur Unterdrückung aller Aktivität
sich zusammen. (Man verwechsle nicht Unrast mit Aktivität!)
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Was damals vor einem halben Jahrhundert und auch noch vor einigen Monaten
völlig übertrieben geklungen haben mag: Heute bewies es sich als prophetisch.
Nur die Religion, jedenfalls die sich als solche begreift, sie war diesmal
nicht beteiligt an der Ausarbeitung dieser speziellen neuen Moral.
Wie Arno Plack feststellt, gibt es schon länger einen ungeschriebenen Hang zur
Bewegungslosigkeit in unserer Gesellschaft. Entsprechend fielen mir auch in
meinem Umkreis Nachbarn auf, für die die neuen Ge- und Verbote eigentlich kaum
eine nennenswerte Änderung mit sich brachten. Ein noch mitten im Leben
stehendes Nachbars-Ehepaar zum Beispiel ging niemals gemeinsam hinaus. Nur der
Mann stieg in seinen Stadtgeländewagen, um zum Einkaufen zu fahren, oder lief
zwei Mal täglich hundert Meter mit seinem Hund um den Block. Ansonsten saßen
sie nur im Garten und rauchten Zigaretten und tranken Kaffee. Für Menschen wie
sie schien sich tatsächlich kaum etwas geändert zu haben. Mit Ausnahme der
Situation in den Supermärkten wahrscheinlich.
Werbung für den Krieg
Um dieser neuen Moral die nötige Unterstreichung zu geben, startete in diesen
Tagen eine unvergleichliche Propagandawelle. Ich kann es nicht anders
bezeichnen. Obwohl ich den klassischen Massenmedien keine besondere
Aufmerksamkeit schenkte, konnte ich der versuchten Gehirnwäsche kaum
entkommen.
Die neuen Tugendbolde waren Politiker und Berühmtheiten, die sich korrekt mit
Mundschutz in der Öffentlichkeit präsentierten und zeigten, wie man jetzt als
aufrechter Bürger sein Leben zu bestreiten hatte. Im Fernsehen zeigten sich
Reporter nur mit Mundschutz, wenn sie mit großzügigem Sicherheitsabstand ihre
Gesprächspartner interviewten. Der Faschingsprinz von Bayern trat
faschingsgerecht mit blau-weiß kariertem Mundschutz vor die Kameras.
Besonders auffällig war mir, dass die Unternehmen, die ja vielfach selbst
stark unter den Beschränkungen zu leiden hatten, bedenkenlos die Propaganda
befeuerten. Von allen möglichen und unmöglichen Firmen, bei denen ich bekannt
war, erhielt ich Nachrichten, die zum Inhalt hatten, wie sehr sie sich
anstrengten in dieser „Krise“ ihre Dienstleistungen auch weiterhin irgendwie
zu erbringen. Plakatwerbung wurde geschaltet, die allen dankte, „die diese
Stadt am laufen halten“ oder gar allen „die dieses Plakat nicht sehen“. Und
zu Hause bleiben nicht vergessen, das versteht sich von selbst. Wie lange
würde wohl an diese namenlosen Menschen gedacht werden, die die Stadt am
laufen hielten und würden sie jemals mehr als eine fragwürdige Plakatwerbung
zum Dank erhalten? Eine Internetseite für Wandern und Freizeitaktivitäten
meldete mir, dass sie ab sofort keine Ausflugsvorschläge mehr verschicken
würden, da sie niemanden animieren wollten, das Haus zu verlassen. Werbespots
im Radio wurden eingeleitet mit „Während du jetzt zu Hause bleiben musst,
besorge dir doch unser Abo für [...]“. Andernorts schlug mir „#STAYHOME noch
besser mit unseren tollen Jump-Suits“ entgegen. Ein Anbieter für sichere
Datenkommunikation warb mit „#HOMEOFFICENOW“. Auffällig war für mich, wie ich
immer öfter mit „Du“ angesprochen wurde. Auch die Werbung sprach die Menschen
mit einer kindlichen Sprache an, die der ganzen neuen Verordnungskultur
passend zu Gesicht stand. Während man sich in Wirklichkeit weiter denn je
voneinander entfernt hatte, heuchelte man in der Sprache Nähe. Einen
besonderen Eintrag für das Unwörterbuch verdiente auch die in Geschäften
anzutreffende Aussage „Sozialer Abstand bedeutet nicht soziale Kälte“. Dieser
Satz klang in meinem Kopf wie eine pandemiegerechte Abwandlung von
„Unterstützt unsere tapferen Soldaten an der Front“.
Besonders eindrücklich zeigten sich mir die Internetdienste des Platzhirsches
Google. Mein Web-Browser teilte mir ungefragt beim Start mit, dass ich zu
Hause bleiben sollte und lieferte mir dazu noch einen Verweis auf
weiterführende Informationen mit. Wenn man in die Suchmaschine einen
Suchbegriff mit C oder einen verwandten Begriff eingab, erschien neben den
Suchergebnissen eine Art Seuchenkontrollzentrum mit den neuesten Schrottdaten
rund um die Pandemie. Eine Weltkarte mit rot eingezeichneten Ländern, Zahlen,
Kurven und Tabellen. Es wirkte auf mich wie eine Computerspiel-Simulation.
Der Pandemie-Simulator 2020. „Ihr Land wird von einer Pandemiewelle überrollt.
Ihre Berater fragen Sie, ob Sie gleich jetzt die Wirtschaft vor die Wand
fahren wollen oder noch zehn Stunden damit warten und derweil weiter Panik
über die Medien schüren. Doch bedenken Sie jederzeit: Millionen Menschen
können sterben, wenn sie zu wenig tun!“
Die Verzahnung von Politik, Medien und Wirtschaft schien besser denn je
vonstattenzugehen. Wie sagte einst Mussolini? „Der Faschismus sollte
Korporatismus heißen, weil er die perfekte Verschmelzung der Macht von
Regierung und Konzernen ist“. Ich bekam gerade eine Ahnung davon, was er
gemeint haben könnte. An einigen Stellen in der Öffentlichkeit, in Geschäften
oder auf Webseiten fielen mir jedoch inhaltliche Widersprüche auf. Die neue
Moral war einfach viel zu schnell und unerwartet eingeführt worden und war
größtenteils den vorherigen Idealen vollkommen entgegengesetzt. Die Welt der
Selbstoptimierung und des Netzwerkens war auf den Kopf gestellt.
Auf einer Nachbarschaftsplattform im Internet verfolgte ich schon seit Wochen
Hilfsangebote für vom Kronenvirus gebeutelte Menschen. Und die
unvermeidlichen Aufforderungen zu Hause bleiben. Oder Angebote zur
„kontaktlosen Übergabe“ von Gegenständen. Letztere Formulierung empfiehlt
sich einmal mehr für das Unwörterbuch. An anderen Stellen der Plattform konnte
man jedoch noch lesen: „Treffen Sie sich doch einmal persönlich mit Ihren
Nachbarn. Das ist die beste Art sich kennenzulernen!“. Die armen Unternehmen
konnten die Schilder ihrer Produkte und Kampagnen nicht schnell genug
auswechseln; das war peinlich in diesen Tagen.
Diese Eigenheit erinnerte mich an das Werk „1984“ von George Orwell. Das Buch
wird meist als Inbegriff für staatliche Überwachung betrachtet. Für mich
stellt die Überwachung in dem Roman jedoch nur ein Nebenthema dar. Das
eigentlich bedrückende ist für mich immer gewesen, mit welcher Allmacht der
Staat im Buch das Denken der Menschen bestimmt. In der Erzählung gibt es nur
noch drei große Staaten auf der Welt: Eurasien, Ostasien und Ozeanien. Der
Protagonist lebt in Ozeanien, welches sich seit