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Austattung aus dem Büro mitnehmen und
ein eigens eingerichteter Transportdienst würde mir selbst meinen Bürostuhl
und meinen Schreibtisch in meine eigenen vier Wände transportieren, wenn es
notwendig sei. Mein Gesprächspartner wiederum war nicht darauf gefasst, dass
ich auf die Erfüllung meines Arbeitsvertrages pochte. Ich äußerte unter
anderem, dass ich die Vorschläge als völlig unverhältnismäßig empfand. „Du
willst ganz normal ins Büro gehen?! Du weißt aber schon, was jetzt hier los
ist? Ich rechne spätestens bis Montag mit der AS“ (Abkürzungen durch den
Autor).
Diese Rechnung war ein weiteres Phänomen, welches man nun beobachten konnte:
Die Menschen betrieben eine Art informelles Lotto-/Toto-Wettspiel zu Fragen
wie: „Wann kommt die AS?“ Der Trend ging hier scheinbar zu: je früher desto
besser und desto wahrscheinlicher. Oder: „Wie lange geht das alles noch so
weiter?“ Hier ging der Trend zu längeren Zeiträumen. Ein langes Leid witterten
viele Mitmenschen und in manchen Medienartikeln orakelte man schon Anfang
März, dass man auch schon mal für das Jahr 2021 alle Sportereignisse absagen
sollte. Ein neues Zeitalter brach an!
Beim örtlichen „Pandemie-Koordinator“ meiner Firma konnte ich mich jedoch mit
meinem schnöden Pochen auf Recht, Gesundheit und Verhältnismäßigkeit
durchsetzen. Ich erhielt die Genehmigung meinen Arbeitsplatz ganz normal
aufzusuchen. Dafür musste ich das mündliche Versprechen abgeben, dass ich
keine öffentlichen Verkehrsmittel, sondern wie immer mein Fahrrad nutze, um
das Büro zu erreichen. Außerdem sollte ich vom restlichen Personal Abstand
halten. Ich ließ es erst einmal dabei bewenden und war schon gespannt, wie
mein erster Arbeitstag nach dem Urlaub wohl aussehen würde. Eine klare
Bestätigung, dass es mein gutes Recht ist, den Arbeitsplatz aufzusuchen, wurde
mir nicht gegeben. Offenbar wollte man keinen Präzedenzfall schaffen.
In einem Artikel in einem Leitmedium las ich gar über eine neue
Zwei-Klassen-Gesellschaft, die sich gerade auftue. Die privilegierte Klasse
sei jene, die Tätigkeiten ausübt, die von zu Hause aus wahrgenommen werden
können. Während die andere Klasse der tödlichen Gesundheitsgefahr unter freiem
Himmel oder in Betriebsgebäuden schutzlos ausgeliefert war. Was war ich nur
für ein Mensch, dass ich freiwillig auf dieses Privileg verzichtete, fragte
ich mich. Offenbar war meine Risikoneigung höher, als ich immer gedacht hatte
und diejenigen, die mich immer als Langweiler betrachteten, lagen falsch!
In der Folge der Kronenvirus-Katastrophe in Bayern wurde vom
Faschingsministerpräsidenten, ähnlich wie in anderen Bundesländern, eine
Einschränkung der öffentlichen Geschäfte verordnet. Der Verzehr von Speisen in
Restaurants und anderen Lokalen war nicht mehr erlaubt. Ein Mindestabstand
zwischen Personen musste eingehalten werden. Geschäfte, die nicht dem
täglichen Bedarf dienten, mussten geschlossen bleiben. Es zeigte sich bald,
dass die größten Umwälzungen, abgesehen von leeren öffentlichen
Verkehrsmitteln, in den Supermärkten stattfanden. Das Phänomen des Hamsterns
hatte innerhalb einer Woche eine Schneise in gewisse Supermarktregale
gerissen. Es fehlten Spaghetti, Dosentomaten, Mehl und: Toilettenpapier.
Letzteres sorgte mittlerweile für eine große Welle des Humors auf den
Endgeräten der Bundesbürger. Oberflächlicher und unverfänglicher Klohumor war
nun ein sicherer Fluchtpunkt in den man sich retten konnte, wenn alle anderen
Themen schnell zu inneren oder äußeren Konflikten führen konnten.
Und tatsächlich: in den Tagen nach unserer Heimkehr wehte ein Hauch von
Apokalypse in den Geschäften. Es war im größeren Umkreis unseres Wohnortes
keinerlei Toilettenpapier mehr zu bekommen. Die Kunden wanderten etwas ziellos
und misstrauisch durch die Reihen. Aus nicht ganz klaren Gründen war auch
manche Bäckertheke plötzlich schon zur Mittagszeit geschlossen, da es nichts
mehr zu verkaufen gab. Doch der Markt regelt das: Angebot und Nachfrage,
Just-in-time-Lieferungen ... doch ... nichts. Offenbar dauerte das Regeln
diesmal etwas länger. Vor etwa einem Jahr wurde der venezolanischen Regierung
vorgeworfen, die eigene Bevölkerung nicht versorgen zu können, was mit Bildern
von leeren Supermarktregalen belegt wurde. Das war zu einer Zeit, in der der
venezolanische Präsident Maduro unbedingt gestürzt werden sollte. Im Falle
Venezuelas lag es an der vorgeblichen Misswirtschaft der sozialistischen
Regierung. Unsere eigene Mangelversorgung in diesen Tagen hatte ihre Ursache
jedoch in einer Naturkatastrophe, die das bundesdeutsche Regime nicht in den
Griff bekam. Ich erahnte zukünftige Dokumentationen über diese Tage, die das
Tieferliegende übersehen, aber sich belustigen würden über die Toilettenkrise
in Zeiten von C. Ich dachte dabei an ähnliche Dokumentationen über
Mangelerscheinungen in der DDR, die ich einst gesehen habe.
Ohne Restaurants auszukommen, fiel uns zum Glück nicht so schwer. Kochen ist
uns alles andere als fremd. Doch unter der Herrschaft der Hamsterer fehlten
nicht nur Toilettenpapier und Spaghetti. Ein bislang noch blinder Fleck in den
digitalen Diskussionsgruppen und sozialen Netzwerken war mir schnell
aufgefallen: Nirgends bekam man mehr Hefe. Weder frisch noch getrocknet. Eine
leckere Pizza zu backen stellte sich so als eine komplexere Aufgabe als sonst
dar. Der Blick in den Bioladen zeigte weiterhin: die deutschen hamsterten
sortenrein. Abweichungen vom bekannten Speiseplan taten sie sich auch im
Katastrophenfall lieber nicht an. So waren nur die klassischen Weizenspaghetti
vergriffen. Vollkornspaghetti sowie die meisten anders geformten Pastasorten
waren noch gut zu bekommen. Die Haferflocken waren stark ausgedünnt, doch
andere kaum zu unterscheidende Flocken wie etwa Emmerflocken waren noch in
Hülle und Fülle da. Nur die gestückelten Dosentomaten fehlten, die
unversehrten hingegen konnte man noch erhalten. Lediglich das Toilettenpapier
schien ein echtes Trauma dieser Nation zu sein. In dieser Sparte fehlte
alles, was auch nur irgendwie einem Toilettenpapier ähnlich war. Die Kosten
schienen hier auch keine *Rolle* mehr zu spielen. War dies das endgültige Ende
des Homo Oeconomicus?
(-> https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/19635/homo-oeconomicus)
Ich machte es mir zu einem kleinen Spass, die unterschiedlichen Aushänge vor
den Geschäften und Einrichtungen zu studieren, die die Schließung oder die
neue Betriebsart der Einrichtung erläuterten. Dabei zeigte sich, dass die
deutsche Sprache in diesem Bereich nur ein ziemlich begrenztes Angebot an
Formulierungen zur Verfügung hatte: „Wegen der aktuellen Situation, ...“,
„Wegen der aktuellen Lage ...“, „Wegen C“, „In den aktuellen Umständen ...“
waren die fast ausschießlichen Texte, die hier zu lesen waren. Während die
Menschen voneinander Abstand halten sollten, war es mir auffällig, dass es
einen mangelnden psychischen Abstand der Menschen zu den Vorgängen zu geben
schien. Oftmals wurde noch ein unvermeidliches „Bleiben Sie gesund!“ oder so
etwas wie „Gemeinsam schaffen wir das!“ oder „Gemeinsam sind wir stark!“ mit
eingebaut. An einem ländlichen Gasthaus fand ich gar einen Aushang, der schon
einige Tage vor den sich überschlagenden staatlichen Maßnahmen gemacht wurde
und der erklärte, dass in diesen Zeiten jeder für sich eine Entscheidung zu
treffen habe und deshalb das Gasthaus ab sofort geschlossen bleibe. Nach der
Lektüre einiger Dutzend solcher Aushänge sehnte ich mich geradezu nach einer
Portion guten alten „Behördendeutschs“. Doch nur ein einziges Mal fand ich an
einem Geschäft die ganz sachliche Erklärung: „Wegen behördlicher Verbote bis
auf weiteres geschlossen“. Erst Wochen später sollte ich eine Tafel vor einer
Bar finden, die die Sache auf den Punkt brachte: „Geschlossen weil Söder“.
In einer Fernsehansprache wandte sich die neue Gesundheitskanzlerin Merkel an
das Volk und gab