Gefährlicher Sommer (Teil 21; Text 3) - Page 4

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von Annelie Kelch

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dass ich am liebsten Zeter und Mordio geschrien hätte. Aufgrund der nun schon seit Wochen andauernden Hitze war der an und für sich sumpfige Boden knochentrocken und beinhart, so dass nur mehr ein leichter Schlammgeruch aus dem Schilfgürtel stieg.
„Das Beste wird sein, wenn Heiner und Gudrun nächste Woche auf den Markt fahren“, hörten wir Kröger parlieren. „Ich werde Oskar und noch ein paar andere Leute aus dem Dorf fragen, ob sie uns beim Pflücken der restlichen Erdbeeren, Pflaumen und Kirschen helfen. Leni hat jedenfalls keinen Platz mehr in der Speisekammer und auch der Keller steht randvoll mit Eingemachtem. Das Geschäft wird sich sicherlich lohnen. Gudrun bringt das Obst an den Mann beziehungsweise an die Frau, während Heiner die Eier verkauft, die übrig bleiben, wenn wir sämtliche Läden zwischen Lachau und Lübeck beliefert haben. Abgemacht?“
„Klar, Chef“, stimmte Heiner sofort zu. Helge schwieg und betrachtete gelangweilt die Spitzen seiner schwarzen Gummistiefel.
„Hannes, hast du nicht neulich ein Mathebuch, das du unbedingt zum Üben brauchst, in eurer Wohnung vergessen?“, fragte ich aufgeregt, nachdem die Männer mit Rhabarber im Pferdestall verschwunden waren und das Tor hinter sich geschlossen hatten. Aus dem Stall drang das zufriedene Schnauben der Gäule, ein leises Kettenklirren und ab und an stampfte ein Huf gegen eine Holzplanke. Hannes sah mich an, als sei ich nicht ganz bei Trost.
„Der Brief, Hannes, der Brief an Herrn Fuchs“, erklärte ich ungeduldig; „du wirst ihn in Lübeck abliefern, auf irgendeiner Wache, weil mir leider nicht bekannt ist, auf welcher Inspektion der gute Herr Fuchs als kriminaler Ermittler tätig ist.“
„Aber ...“, begann Hannes und sah mich entgeistert an.
„Du bist er einzige Mensch auf Lachau, den Herr Fuchs noch nicht zu Gesicht bekommen hat, und dabei soll es auch bleiben, zumindest so lange, bis diese unseligen Kriminalfälle aufgeklärt sind. Trotzdem wirst du dir eine Schirmmütze aufsetzen, eine Sonnenbrille tragen und dir die Haare vollständig aus der Stirn kämmen. Wir fahren mit dem Bus! Heute noch! Ich komme mit!“
„Und mit welchen holden Worten willst du den Fuchs aus seinem gemütlichen Bau locken?“, fragte Hannes mit honigsüßer Stimme und ließ sich der Länge nach auf den Steg fallen. Trotz aller Ironie, die sich in seiner Miene widerspiegelte, machte er mit einem Mal einen ziemlich angeschlagenen Eindruck, den ich darauf zurückführte, dass meine soeben erfolgten Anweisungen wie leichte Hammerschläge auf ihn gewirkt haben mussten.
„Das wirst du dann schon sehen. Wir treffen uns in einer halben Stunde an der Bushaltestelle“, sagte ich schnell, bevor er es sich anders überlegen konnte.
„Vergiss bitte nicht, die Accessoires mitzubringen, du weißt schon: Schirmmütze, Sonnenbrille und eventuell Pomade – falls sich dein Haar als noch störrischer erweisen sollte als du selber“, fügte ich lächend hinzu.
„Das musst ausgerechnet du sagen“, grinste Hannes.
Ich rannte ins Haus und stürmte die Wendeltreppe zu meinem Zimmer empor. Die Tür war entgegen meiner Erwartung nicht verschlossen, und als ich über die Schwelle trat, glaubte ich einen Moment lang, mich in der Tür geirrt zu haben; denn auf dem Bett, das ich zwar an der gleichen Stelle des Raumes vorfand, wo ich meines vermutete, lag eine fremde Frau. Manchmal quartiert die Gnädigste ja hier oben auch ihre eigenen Feriengäste ein, schoss es mir durch den Kopf. Ich warf einen prüfenden Blick auf die Unbekannte. Sie lag auf dem Bauch und präsentierte mir ihren nackten, braungebrannten Rücken. Der knappe Badeanzug, der mehr entblößte als verdeckte, war ebenso schwarz wie ihr lockiges, langes Haar. Auf dem Holzfußboden, den die warmen Sonnenstrahlen mächtig aufpolierten, tanzten ein paar graue Staubflocken. Um eine neue Putzfrau aus dem Dorf handelte es sich bei dieser holden Evastochter ganz gewiss nicht, liebe Christine.
Ich wollte gerade den Raum verlassen, als mir der Briefumschlag ins Auge fiel, der auf dem Nachtschrank neben dem Bett lag. Es handelte sich zweifelsfrei um Harrys Brief. Ich zog nahezu geräuschlos die Tür hinter mir zu und stieg leise die im ewigen Schatten liegende Treppe hinunter. Leni war dabei, das Geschirr vom Abendessen abzuspülen, als ich die Gutsküche betrat.
„Leni, in meinem Zimmer liegt eine fremde Frau und schläft, in meinem Bett, auf dem Bauch, in einem winzigen Badeanzug,“ gab ich Leni mit leichtem Vorwurf zu verstehen.
„Das sollte ich aber wissen“, brummte die Gute seelenruhig und meines Erachtens viel zu nüchtern für die ungeheure Entdeckung, die ich soeben gemacht hatte. Sie trocknete sich umständlich die Hände ab und folgte mir die Treppen hoch zu meiner Kammer, die, wie du ja letztes Jahr, als dir noch beide Beine zur Verfügung standen, liebe Christine, selber in Augenschein nehmen konntest, anstelle eines schnöden Waschbeckens mit einem wunderschönen, weißen Porzellankrug ausgerüstet ist, der sich in einer ebenso wunderschönen, schweren weißen Porzellanschüssel aufzuhalten pflegt. Jeden Abend vor dem Zubettgehen vollziehe ich die heilige Zeremonie des Wasserholens aus dem Hahn in der Waschküche und schleppe das kostbare Nass nach oben in mein Ferienzimmer (auf dem Kopf – mit Festhalten). Die benutzte Flüssigkeit landet in einem Eimer, der sich im unteren Teil des Waschtisches (mit echter, mindestens acht Zentimeter dicker Marmorplatte) befindet und allmorgendlich in den Abfluss der Waschküche entleert wird.
„Na, dann wollen wir mal sehen, wer sich, ohne mich vorher zu fragen, bei dir einquartiert hat“, murmelte Leni und drückte die Messingklinke herunter. Sie öffnete die Tür und spähte durch einen kleinen Spalt ins Zimmer.
„Immer hereinspaziert, wenn es nicht gerade meine Mutter Anita Franzen ist“, tönte uns eine muntere Stimme entgegen, die mir reichlich bekannt vorkam. Leni brach in nervöses Kichern aus und stieß die Tür auf. Die Fremde hatte sich ein wenig aufgerichtet und hielt ihr Kinn auf eine Hand gestützt.
„Seit wann hast du schwarze Haare, oder sind Sie etwa die aus unerfindlichen Gründen bis zum heutigen Tage verborgen gehaltene Zwillingsschwester meiner etwas überspannten Mutter?“, fragte ich empört, während Leni weiterhin kicherte, als hätte ich einen Witz nach dem anderen gerissen.
„Die schwarzen Haare trage ich, seit Tante Sarah vor zwei Stunden die Güte hatte, sie mir zu färben, und das ist übrigens auch der Grund, weshalb ich hier oben, sozusagen in der Verbannung, gelandet bin; denn seit ich die Dreistigkeit besessen habe, wie deine Oma sich ausdrückt, ihr mit diesem ,Kopfputz' unter die Augen zu treten, wechselt sie kein einziges Wort mehr mit mir, und das ist noch weitaus schlimmer, als würde sie die Gedanken, die ihr im Kopf herumspuken, ausspucken; das könnt ihr mir getrost glauben. Und hättest du mit uns Abendbrot gegessen, Katja, statt wieder einmal mit Leni zusammen in der Gutsküche, wie ich annehmen muss, wäre dir dieser Schreck in der Abendstunde erspart geblieben.“
„Ich habe mich überhaupt nicht erschrocken; ich war lediglich empört darüber, dass jemand in meinem Bett liegt“, klärte ich Mutti auf. „Seit wann machst du hier auf Schneewittchen? Außerdem bin ich mehr als froh darüber, dass ich Leni beim Essen Gesellschaft geleistet habe. Dass muss ja ein fürchterliches Nachtmahl gewesen sein, wenn Oma wieder mal die Beleidigte spielt.“
„Allerdings“, stimmte Mutti mir ausnahmsweise zu.
Ich sah sie mir eine Weile lang aufmerksam an, bevor ich mich zu der kritischen Bemerkung hinreißen ließ, dass ihr die naturbraunen Haare bedeutend besser zu Gesicht stünden.
„Schwarz macht alt. Das kann man überall nachlesen“, klärte ich sie auf.
„Na, na“, warf Leni beschwichtigend ein. „Alt sieht deine Mutter mit der neuen Haarfarbe nun nicht gerade aus, aber irgendwie fremd. Musste das denn wirklich sein, Martha? Hättest du mit dieser Verwandlung nicht warten können, bis ihr wieder zu Hause seid? Du hättest dir doch denken können, wie Anita auf eine derartige Veränderung reagiert und dass du damit einen Streit vom Zaun brechen würdest.“
Auf was für merkwürdige Ideen der Mensch doch kommt, wenn er sich langweilt, dachte ich und kramte Schreibblock, Briefumschlag und Kugelschreiber aus dem Schreibsekretär unter dem Fenster hervor. Während ich mich langsam zurückzog, bot ich Mutti großzügig an, mein Zimmer für die nächsten drei, vier Stunden ruhig weiterhin mit Beschlag zu belegen, da ich ohnehin vorhätte, später nach Hause zu kommen, weil Hannes und ich nach Lübeck wollten. Hannes hätte in der Krögerschen Wohnung ein wichtiges Schulbuch vergessen, dass er dringend zum Lernen benötigte.
Ich wunderte mich, dass der Protest, mit dem ich fest gerechnet hatte, ausblieb und kann diese überaus günstige Tatsache nur damit erklären, dass meine Worte Muttis Oberstübchen nicht komplett erreicht hatten. Sollte dieser Fall entgegen aller Erwartungen tatsächlich heute noch eintreten, liebe Christine, wäre ich bereits über alle Wiesen und Felder. Ich würde nicht gerade behaupten, dass Mutti der Meinung ist, der weibliche Kopf säße ausschließlich zum Frisieren auf den jeweiligen Hälsen, aber manchmal erweckt sie bedauerlicherweise diesen Eindruck.

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