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Turm.
Man hatte anscheinend keine Notwendigkeit mehr gesehen das Gebäude zu verschließen. Im Inneren fiel dank großer unbeschädigter Fenster viel Licht ein. Der Raum war vollständig leer und nichts deutete mehr auf religiöse Zusammenkünfte hin. Dort, wo damals ein Altar gestanden haben musste, befand sich seitlich ein Durchgang, hinter dem es deutlich dunkler wurde. Sicherheitshalber hatte Lesharo vor Reiseantritt eine Taschenlampe in den Rucksack gepackt und konnte somit gut gerüstet die Schwelle ins Unbekannte übertreten.
Eigentlich wollte er auf direktem Weg die Treppe nach oben nehmen, doch ein starker innerer Impuls leitete ihn jetzt abwärts in den Keller. Dort dominierte angesammelter Staub und es roch äußerst unangenehm. Lesharo leuchtete mehrmals jeden Winkel ab und fand nicht den kleinsten Hinweis einer Spur, die Menschen oder Tiere hinterlassen hatten. Alles war gänzlich leer geräumt wie der Kirchsaal darüber.
„Lesharo ...“
Hatte da etwa jemand seinen Namen geflüstert? Nein, bestimmt nicht, denn hier unten gab es doch keine Möglichkeit sich zu verstecken.
„Lesharo …“
Die Taschenlampe wurde ausgeschaltet, um alle Sinne mit Ausnahme des Sehens zu schärfen. Mit 53 Lebensjahren war er sicherlich kein Jungspund mehr, wollte aber auch noch nicht zur Gruppe der altersbedingt debilen Menschen gehören. Vielleicht benötigte sein Körper ja einfach nur ein wenig mehr Flüssigkeit, was sich jedoch in diesem Moment als schwierig erwies, da die mitgeführte Wasserflasche auf dem Weg zur Siedlung bereits geleert worden war.
„Wer ist da?!“
Zwischendurch leuchtete die Taschenlampe immer wieder kurz auf, in der Hoffnung, etwas Verdächtiges zu sehen.
„Werde ruhig und konzentriere dich auf meine Worte ...“
„Jetzt reicht es mir aber! Los, zeig dich endlich oder hast du hier etwa kleine Lautsprecher samt Mikrofone versteckt?!“
Die moderne Technik machte zwar gegenwärtig vieles möglich, aber weshalb sollte ausgerechnet an diesem Ort, wo gewöhnlich kein Mensch in Erscheinung trat, jemand Zeit und Geld für solche Spielereien verschwenden?
„Vertrau mir …“
Sehr besonnen klang die fremde Stimme. Entweder wurde das hier aufgezeichnet für eine zukünftige Ausgabe der Versteckten Kamera oder irgendein Freak erlaubte sich gerade gewöhnungsbedürftige Späße. Eigentlich wäre Lesharo jetzt am liebsten nach oben in den Turm geflüchtet, denn so lautete schließlich sein ursprünglicher Plan. Andererseits signalisierte die Situation hier unten mehr Spannung als der Fund einer mutmaßlichen Einschlagstelle.
Demonstrativ setzte sich Lesharo mitten in den Raum, schloss trotz Dunkelheit die Augen und konzentrierte sich vorrangig auf seine Atmung.
„Folge deiner Bestimmung …“
Von ihm völlig unbemerkt, bildete sich dezent grün leuchtender Nebel und hüllte den Mann langsam ein.
„Sie befinden sich hier auf Privatbesitz!“
Mindestens 20 Jahre jünger als ihr Gegenüber schien diese Frau zu sein und dem ersten Eindruck nach zu urteilen, hatte sie mit Sicherheit ebenfalls direkte indigene Vorfahren wie er.
„Entschuldigung, ich habe mich anscheinend … äh … verlaufen …“
Peinlich berührt erhob sich der unangekündigte Besuch und gab ihr die Hand.
„Sorry, ich bin ein wenig durch den Wind … Mein Name ist übrigens Lesharo.“
„Hi, ich bin Ishani … Hier tauchen aber gewöhnlich keine Fremden auf …“
Die beiden standen direkt vor dem Eingang eines großen Landhauses aus der Kolonialzeit. Es fungierte offensichtlich als Wohnstätte eines Großgrundbesitzers. Selbst im 21. Jahrhundert war deren Reichtum, Macht und Einfluss nahezu ungebrochen. Weit und breit traten keine weiteren Gebäude mehr in Erscheinung.
„Du wohnst nicht schlecht.“
Zugegeben, Ishani hätte biologisch gesehen seine Tochter sein können, doch ihre tiefen braunen Augen wirkten auf ihn deshalb nicht minder anziehend.
„Gefährlich siehst du ja nicht gerade aus, aber schon ein wenig verlottert … Lass uns reingehen, die Mittagssonne ist heute wieder unerträglich.“
Als sie das Haus betraten, schien sich dort keine weitere Person aufzuhalten. Auf jeden Fall machte sich niemand bemerkbar.
„Wo ist denn dein Mann oder lebst du hier etwa allein?“
„Ganz schön neugierig … Sag mir erst einmal, was DICH hierher führt.“
Wie sollte Lesharo ihr bloß seine entsprechende Unwissenheit erklären, denn die letzte Szene vor dieser Begegnung hatte sich in jenem Kirchenkeller abgespielt?
„Ein Blackout …“
„Hör auf zu lügen! Du bist ein Landstreicher und willst hier entweder betteln oder suchst einen Job als Tagelöhner!“
Um sich nicht völlig zu blamieren, versuchte er es mit der Wahrheit.
„Hast du vergangene Nacht auch diesen Himmelskörper gesehen?“
„Jetzt lenk nicht ab!“
„Hey, soll ich deine Frage beantworten oder nicht?! Also, da war diese grün leuchtende Sternschnuppe. Sie schlug in der Nähe einer verlassenen Siedlung ein und ich habe mich direkt heute Morgen aufgemacht, um die entsprechende Einschlagstelle zu finden … Dabei bin ich wohl vom Weg abgekommen.“
Eine bessere Notlüge fiel ihm leider nicht ein.
„Du meinst aber nicht zufällig die alte Goldgräbersiedlung in 50 Kilometern Entfernung von hier? In der kurzen Zeit kann doch niemand zu Fuß eine solche Distanz überwinden.“
„Mir wurde schwarz vor Augen und dann lag ich plötzlich vor deinem Haus ...“
Ishani glaubte ihm kein Wort. Weder die Sternschnuppe hatte sie gesehen, noch war es wohl realistisch, dass jemand zuerst in einer soweit entfernten Siedlung ohnmächtig wird und man diese Person dann anschließend vor ihrer Tür abladen würde.
„Bei dem Wetter sind Sonnenstiche keine Seltenheit.“
Eigentlich hätte dieser Mann schon längst von ihr weggeschickt werden sollen, doch er gehörte offensichtlich zu den Nachfahren der Ureinwohner dieses Landes, genau wie sie. Drahtig wirkte sein Körper, deutlich jünger als der erste Eindruck erahnen ließ. Ein wenig mehr Pflege würde ihm bestimmt nicht schaden, dennoch faszinierte Ishani seine raue Natürlichkeit und gewinnende Ausstrahlung.
Ohne länger zu zögern, wurde Lesharo an einen massiven Holztisch gesetzt. Die Gastgeberin servierte Wasser mit Eiswürfeln und gesellte sich zu ihm.
„Ich wohne hier mit meinem Vater allein, seit Mutter vor fünf Jahren gestorben ist. Na ja, eigentlich sind meine richtigen Eltern unbekannt. Die beiden Weißen adoptierten mich im Babyalter, da ihr Kinderwunsch leider unerfüllt blieb. Du siehst, auch Großgrundbesitzer sind nicht immer Gegner der Indigenen …“
„Wo ist dein … der Hausherr gerade?“
Ishani lächelte.
„Du kannst ruhig Vater sagen und er ist zurzeit auf einer Agrarmesse. Aber jetzt zu dir … Wo kommst du eigentlich her?“
Lesharo erzählte ihr von seinem Leben im Slum. Auch die Vergangenheit sparte er nicht aus. Bereits mit vierzehn hatte man ihn damals als Häuptling inthronisiert, da sein Vater bei der Jagd unerwartet ums Leben gekommen war. Bis zum bitteren Ende kämpfte Lesharo in jenen Jahren um den Erhalt des Stammes, doch letztlich brach die gesamte Gemeinschaft auseinander …
„Krass, das nenne ich