Fortsetzung und Beendigung von Franz Kafkas Romanfragment "Amerika" - Page 19

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hier, auf der Mega-Bühne, erleben, Roßmann. Wie ich so höre, geben Sie demnächst den Romeo?“ Karl bejahte. „Dann wünsche ich für diese Vorstellung bereits jetzt toi toi toi...“ Karl dachte bei sich: Als Chef dieses gewaltigen Apparates sollte er wissen, dass er mir das nur dann sagen sollte, wenn ich bereits in Maske und Kostüm vor ihm stehe. Andererseits: Vielleicht ist der Mann auch viel zu weit vom eigentlichen Geschehen entfernt. Möglich auch, dass ihm Administration und der Blick auf den Gesamt-Haushalt die Sicht auf das Wesentliche verstellt - das Theater. Das Geschehen am und rund um das Theater. Die Aufführungen. Natürlich auch die Schauspielerinnen und Schauspieler. All die Beteiligten. Wir reden hier von 12000 Menschen, die den Betrieb voran treiben, ihn am Laufen halten. Irgendwo hat er es gehört, das geflügelte Wort: The show must go on! Unter allen Umständen und auch dann, wenn, wie in dieser Phase, der Welt ein Krieg droht. Und lediglich 3 Jahre später sollte auch Amerika in diesen Weltkrieg eingreifen. Gerade jetzt, gerade hier - in Amerika, lechzten die Menschen nach Abwechslung und Zerstreuung. Die Theater waren gut besucht, zunehmend gab es auch Konkurrenz durch die Lichtspiel-Häuser.

Die bereits im Vorfeld groß angekündigte „Romeo und Julia“-Aufführung sollte das Spektakel überhaupt des Jahres 1914 sein, das nun angebrochen war. 6 Monate hatte man Zeit. Fleißig wurde am Bühnenbild gearbeitet, die Kostüme genäht, alle Details ausgearbeitet, am Konzept gewerkelt, eine Strategie entwickelt, das große, gewaltige Projekt auf die Bühne zu bringen. Alle waren gespannt. Wie immer, hatte Karl nicht die geringste Mühe, sich den Text recht schnell anzueignen. Rollenbuch und das Stanislawski-System (der Vorgänger zum Method Acting) prägten Roßmann in dieser Phase sehr stark. Er fühlte sich als Romeo, er litt und durchlebte alle diese Qualen einer Liebe, die ohne ein Happy End bleiben würde. Die Tragik durchströmte den jungen Schauspieler, umgab ihn, floss gleichsam durch seine Adern. Gramvoll der Blick, er übte das über Stunden vor einem Spiegel, dann wieder heiter unbesorgt, wenn es um die seligen Stunden der süßen Zweisamkeit ging. Hier reichte es meist, an seine Julia zu denken. Das pure Entzücken zeichnete sich alsbald auf Roßmanns Gesicht ab. So liebreizend und schön sie war, diese Julia, so unnahbar aber auch in den Pausen, nach den Proben, bei der Kostüm-Anprobe, beim Smalltalk neben der Bühne, beim Umtrunk nach anstrengender und angestrengter Arbeit. Eigentlich hieß die schöne junge Frau Jenna, aber für Karl blieb sie, in Gedanken, immer die ‘Julia’.

Die Kostümproben gaben bereits einen guten Einblick, ohne Zweifel würde das eine phänomenale Aufführung werden. Blip hatte alles unter Kontrolle. Die Zeit drängte ja auch nicht. Noch immer waren es 2 Monate bis zur Uraufführung. Das Bühnenbild an der gewaltigen Hauptbühne schuf eine perfekte Illusion der norditalienischen Stadt Verona, rund um 1597, es war wahrlich berauschend schön. Am 4.7.1914 sollte die Premiere sein, das war auch der amerikanische Nationalfeiertag. In diesem Jahr fiel er auf einen Samstag.
 
Die Reaktionen aus Prag ließen nicht lange auf sich warten. Man habe sich beraten, und alle vier wollten die Überfahrt in 4 Wochen wagen, mit der Hamburg - Amerika- Linie, wie einst auch Karl selbst. Es gäbe auch Kontakt zum Freunde, Kummerbund, der sich ihnen anschließen werde. Man wohne, alle fünf, in einer günstigen Pension, direkt in Downtown Oklahoma City, nicht weit entfernt vom Theater. Karl freute sich. Es würde endlich ein Wiedersehen mit Jakob, seinem Sohn geben. Er war bereits in der 4. Klasse. Die Zeit verfliegt so rasch, dachte Karl. Er würde Johanna und die Eltern sehen. Aber am meisten freute er sich auf den kleinen Jakob. Den hatte er vor über 10 Jahren zuletzt sehen dürfen. Seither gab es nur Bilder von ihm. In jedem Jahr ein Bild. Alle hingen bei ihm im kleinen Zimmer an der Wand. Die Eltern hatten eingeplant, über die Gala-Vorstellung hinaus noch eine Woche in OK City zu bleiben. Er könne also ausreichend Zeit mit Sohn und Kindesmutter verbringen, und ihnen, den Roßmanns, die große Stadt Oklahoma City zeigen. Für alle Anreisenden war dies natürlich der erste Besuch überhaupt in Amerika. Alle waren sehr aufgeregt.

Karl, weil er nicht wusste, ob ihm seine Eltern gram sein würden, da er ja diesen ehrenwerten Beruf aufgegeben hatte, um einer „unsoliden, ungewissen Zukunft entgegen zu taumeln“, wie es der Vater einst in einem mahnenden Briefe, relativ besorgt, geschrieben hatte. Das war nach der Entlassung aus dem Occidental der Fall. Karl hatte stets alle wesentlichen Fakten in seinem Leben wahrheitsgetreu an die Eltern vermeldet. Die unwesentlichen ließ er geflissentlich aus. Niemand wollte wissen, so Karl, warum er aus dem Occidental geflogen war. Und niemand musste wissen, dass er bei einer chaotischen, psychisch kranken Persönlichkeit als Butler und Leibeigener untergekommen war. Damals hatte er geschrieben: Ich bin so eine Art Privatsekretär einer betuchten älteren Dame. Völlig inkorrekt war das eigentlich nicht. Es ist aber auch nicht die lautere Wahrheit gewesen, das sah Karl, durchaus selbstkritisch, ein. Er wollte sich alles von der Seele reden, alles wahrheitsgemäß berichten, alles sagen. Nämlich, wie es sich wirklich abgespielt hatte. Nichts mehr verheimlichen, keine Tricks anwenden, nichts zurück halten. Er wollte den reinen Tisch machen. Dazu war jetzt die Gelegenheit. Johanna hatte sich bitter beklagt: Solch ein Schuft kannst du sein, schrieb sie ihm. Erst schreibst du mir, wie wenig dieser Schauspielberuf dich lockt, dann lese ich, ganz plötzlich, jetzt bist du einer davon, mitten drin im Show-Biz. Johanna hatte „Bizz“ geschrieben, und Karl hatte schmunzeln müssen. Sie würde sicher noch stolz auf ihn sein, wenn sie ihn erst auf der gewaltigen Bühne agieren sah. Johanna hatte sich, um vorbereitet zu sein, das Reclam-Heft gekauft, und das Drama ganz gelesen. All diese wunderschönen Worte, all diese Tragik einer unmöglichen Liebe, Johanna hatte viel geweint bei der Lektüre. Sie vergaß dabei völlig, dass die Aufführung in englischer Sprache stattfinden sollte. Man war ja nicht in Prag. Doch keiner, außer Kummerbund, beherrschte das Englisch so gut, dass er einen Shakespeare’schen Text im Englisch des späten 16. und des frühen 17. Jahrhunderts so gut verstand, dass er auch mühelos der Handlung auf der Bühne folgen

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