Fortsetzung und Beendigung von Franz Kafkas Romanfragment "Amerika" - Page 16

Bild von Gherkin
Bibliothek

Seiten

der Bühne“ erst einmal fürs Tournee-Ensemble gebucht werden würden. Und diese Tourneen würden Roßmann durch das ganze Land führen, in alle Staaten. Er möge wissen, so Wind, dass diese Tourneen kräftezehrend, enervierend lang und mitunter auch sehr zäh seien. Immer nur ein und dasselbe Stück zu geben, an jedem Abend, an Sonntagen vielleicht zwei Mal sogar, das verlange ihm viel ab. Vor allem aber die unbedingte Liebe zur Bühne und zum Theater an und für sich. Karl versicherte, diese Liebe in sich zu tragen. Ja, er bestand darauf, der großen Mimin anzuvertrauen, es könne gar keine besseren Lehrzeiten geben als die Jahre an einer Wanderbühne. Ein grundsolides Handwerk erfordere eben Erfahrung. Und die hole er sich über das Tournee-Ensemble. Wind schien erfreut. Hier kamen Enthusiasmus und ein gehöriger Idealismus sehr deutlich zum Tragen. Keine schlechten Voraussetzungen für eine gewaltige Bühnen-Karriere.

Wie würden seine früheren Kollegen, der Bühnenmeister, die Intendanz, staunen, so er eines Tages auf der Hauptbühne den Romeo gab? Würde er die begeisternden Jubelstürme der Presse auch nach Hause senden? Zu den Eltern, an Johanna und den Sohn? Vielleicht sogar an den Senator? Wohl wissend, dass sich jener sehr für die zeitgenössische Schauspielkunst interessierte. Und immerhin 2 x waren sie ja auch zusammen im Theater gewesen. Sie hatten den „Zerbrochenen Krug“ gesehen und, keine 6 Wochen später, Heinrich von Kleists „Penthesilea“. Zu jener Zeit hatte Karl noch erhebliche Schwierigkeiten im Umgang mit der altertümlichen englischen Sprache gehabt. Das war heute kein wie auch immer geartetes Problem mehr. Sein Englisch hätte besser kaum sein können. Der Akzent war fast vollständig vergangen und auch das schleppende, leicht nasale Sprechen hatte ihm die Akademie letztlich abgewöhnt. Seine Ausbildung hatte sich gelohnt. Es hatte aber auch viel Kraft, und, vor allem, sehr viel Ausdauer, Leidenschaft und großen Mut gebraucht, diese Hürde zu nehmen. Nach anfänglichen lässlichen Unstimmigkeiten gab es, zur Mitte der Ausbildung hin (und wie lange ihm diese Zeit bereits völlig aus dem Gedächtnis entschwunden war, sehr seltsam), eine sanfte Befriedung, und nun, am Ende der Studienzeit angelangt, ward ihm das Wissen zuteil, „er habe es ausreichend gut gemacht“. Perfektion sprach die Leiterin der Akademie keinem zu, sie sprach auch nie von „überragend“ oder auch von „phänomenal“, doch alle wussten das, „eine ausreichend gute Leistung“ reichte alle Male und sicher aus, um dieser großen Staatsschauspielerin (emeritiert) sehr zu gefallen, den für die Leistungen erhofften Beifall dann auch zu erhalten.  

Manch Kummertrunk umging der immer noch recht junge Karl, indem er sich in die Arbeit warf, tagsüber. Mit dem Rollenstudium, die halbe Nacht, und seinen Studien an der Akademie, ergab sich zusammen ein Arbeitspensum, das nur schwerlich zu bewältigen schien. Irgendwie schaffte es Karl jedoch, obschon er mitunter wahrlich wie bleiern in die Kissen sank. Es folgte ein nahezu bewusstloser Schlaf, traumfrei. Gar keine Träume zu haben, erschien ihm unnatürlich. Arbeitet der Geist nicht des Nachts alle Sorgen und Probleme auf, kämpft mit ihnen und entlässt sie dann wohl in die Freiheit? Besiegt? Jedenfalls für diese Nacht? Sollte nicht ein Traumgebilde den Schlaf veredeln helfen? Karl hatte sich in früheren Zeiten, vor allem auch im Hotel Occidental, sehr stark an seine nächtlichen Träume erinnern können. Manche hatte er auch aufgeschrieben, zu bizarr erschienen sie ihm am nächsten Morgen. Manche Träume hatten ihn verängstigt, aber die meisten schienen Schabernack mit seinem mentalen Zustand zu treiben, ein Possenspiel der besonderen Art. Mitunter hatte er sogar fliegen können im Traum. Gerade diese „Flug-Träume“ hatten ihn besonders erfreut, erfrischter als sonst war er nach solchen Traum-Vorstellungen, die ihn hoch hinauf, in schwindelnde Höhen, geführt haben, erwacht. Wohl gelaunt, präpariert für den schweren Dienst als Liftjunge. Immer höher hinaus. Ja, das gefiel Karl Roßmann (und er genoss jeden einzelnen dieser leider seltenen Flug-Träume sehr!).

An einem Freitag, dem 13., erfuhr er von einem schrecklichen Unfall am Theater. Es wurde ihm berichtet, dass ein sehr junger Mann vom Rollenboden, direkt über dem Schnürboden gelegen, gefallen sei und sich das Genick gebrochen habe. Da ja auch Karl sehr oft hoch oben auf dem Seil- und auch dem Rollenboden herum geturnt war, überfiel ihn sogleich ein gewaltiger Schrecken, ihn schauderte so sehr, dass dieses Zittern jedem auffallen musste, der sich gerade in seiner Nähe befand. Karl wusste, und dies instinktiv, dass es einen ihm bekannten Menschen getroffen hatte. Er fragte nach und erfuhr, dass ein ehemaliger Mensch aus der Küchenbrigade sich beim Chef der Bühnenarbeiter-Brigade beworben hatte und angenommen worden war. Sichtlich unzufrieden mit seinem niedrigen Rang dort in der riesigen Groß-Küche hatte dieser junge Mann dann zugestimmt, mitzuhelfen, einige Züge von der Bühnendecke herab zu lassen, sie verlaufen von der Bühnenwand über den Schnürboden. Und leider, bei der Befestigung an der Seitenwand, ausgerechnet am Schlitten Nr. 13, hatte sich der Jüngling an einem schweren Gewicht, zur Kompensation der Masse der Dekoration, gestoßen - und war, nahezu bewusstlos, vom Rollenboden gestürzt. „Wie heißt der arme junge Mensch?“ Das fragte Karl Roßmann bangen Herzens. Und es wurde ihm gesagt: „Das war ein gewisser Giacomo. Der wäre wohl besser in der Küchenbrigade geblieben!“ Karl fand das „disgusting“ und wandte sich ab. Tränen flossen über seine Wangen. Er trauerte lange um den ehemaligen Freund, erinnerte die mitunter schwer zu ertragenden Zeiten, da sie beide Liftboys im Occidental waren. Nun wurde ihm so hart bewusst, dass Giacomo ein guter Freund gewesen ist, ein naher Freund. Seine Tränen flossen unaufhörlich. Und erstmals überhaupt sehnte er sich nach Umarmung und der Nähe eines geliebten Wesens, vielleicht der Mutter, vielleicht auch Johannas oder Fannys Trost. Niemals seit den schweren Zeiten, da er ohne festen Wohnsitz in New York unterwegs und umher geirrt war, hatte er sich so trostlos und so entsetzlich einsam gefühlt. Ihm fehlte die Nähe eines liebenden Menschen, all die Wärme, auch ein freundliches Wort zur rechten Zeit. Nun erst, seit dem tragischen Tod des immer so springlebendigen Giacomo, wurde ihm deutlich, wie einsam er schon seit so vielen Jahren gewesen ist. Einsam, seit er den Onkel hatte verlassen müssen.

Die Bühnenarbeiter, genau so abergläubisch wie die Schauspieler selbst, befanden, es sei ein böses Omen, dass an einem Freitag,

Seiten