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Bruchteil einer Sekunde mit einem Bekannten verwechselt hatten, genau wie er selbst zuweilen andere Leute bei ihrem Tun beobachtete, so war nun einmal die Natur des Menschen. Doch den direkten Augenkontakt vermied man üblicherweise, das war eine Konvention, schließlich bedeutete das Austauschen von Blicken den Übergang in den privaten Bereich.
Wer also war dieser Mann an dem Cafétisch, und was waren seine Absichten? Gärtner konnte mit Sicherheit sagen, dass ihm der Kerl noch nie untergekommen war. Oder doch? Das Unbehagen, das er verspürte, hatte es vielleicht tiefere Gründe? War im Blick des Mannes mit dem Schnurrbart nicht auch Zufriedenheit abzulesen, so als hätte er gerade die Bestätigung für einen lange währenden Verdacht gefunden?
Der Fremde vertiefte sich wieder in seine Zeitung, als sei nichts gewesen. Beendet war dieser seltsame, kurze Blickkontakt, doch Gärtner war in höchstem Maße irritiert und wurde das Unbehagen nicht wieder los. Zwar versuchte er, in seinem Buch weiterzulesen, doch die Wörter verflüchtigten sich vor seinen Augen. Immer wieder wanderten seine Gedanken zurück zu dem Vorfall von gerade eben. Er ließ das Buch langsam sinken und blickte ins Nichts, während in seinem Kopf das Gedankenkarussell langsam Fahrt aufnahm.
Fieberhaft überlegte Gärtner, ob er diesen Menschen nicht doch von irgendwo her kannte. Doch je verzweifelter er in seiner eigenen Vergangenheit suchte, desto trüber wurde die Suppe seiner Erinnerungen, und ihm fiel auf, dass er sich Gesichter aus früheren Jahren kaum ins Gedächtnis rufen konnte. Er war es nicht gewohnt, an die Vergangenheit zu denken. Warum war das so? Es musste einen Grund dafür geben, doch Gärtner konnte sich nicht auf ihn besinnen. Seine gesamte Existenz kam ihm mit einem Mal fragil, ja geradezu lächerlich vor. Was ging hier vor? Warum ließ er sich von einem einzigen, kurzen Blick so aus der Fassung bringen? Die Leichtigkeit, mit der Gärtner noch wenige Minuten zuvor den Sonnenschein genossen hatte, war dahin.
Und dann riskierte er doch einen verstohlenen Blick hinüber. Der Andere las immer noch in der Zeitung. Still und unbeteiligt saß er da und studierte den Leitartikel auf der Titelseite. Vermutlich war gar nichts passiert, dachte Gärtner und versuchte, seine innere Anspannung abzuschütteln. Seine Fantasie hatte ihm einen makaberen Streich gespielt, und dieser Mann dort drüben hatte ihn genauso wenig eines Blickes gewürdigt, wie es die allermeisten übrigen Menschen taten. Und überhaupt, was war das schon, ein Blick? Die Menschen hatten nun einmal Augen, warum sollten sie diese nicht auf Artgenossen richten dürfen?
Das Lächeln, mit dem sich Gärtner über seine Torheit zu amüsieren versuchte, erstarb in demselben Augenblick, in dem der Mann mit dem Schnurrbart seine Augen von der Zeitung hob und Gärtner zum zweiten Mal fixierte. Die kalten, emotionslosen Augen. Um ihnen nicht standhalten zu müssen, blickte Gärtner auf seine Finger, die nervös auf der Tischplatte trommelten. Was will dieser Mensch nur, fragte er sich, was habe ich verbrochen, dass er mich so anstarrt?
Er hätte aufspringen können, auf den Fremden zugehen, ihn direkt ansprechen und fragen, was sein Problem sei. So wie er es in amerikanischen Spielfilmen im Kino gesehen hatte. Doch Gärtner war nie ein Mann der Emotionen und der starken Gesten gewesen. Eine andere Möglichkeit war, den kühlen Blick ebenso kalt zu erwidern und so zu zeigen, dass auch er die Kunst der psychologischen Kriegsführung beherrschte. Allein, Gärtner beherrschte diese Kunst nicht. Das wusste er selbst nur zu gut. Er war ein rationaler und abgeklärter Mensch, ein Grübler, und Emotionen stand er seit jeher skeptisch gegenüber. Er würde sich höchstens lächerlich machen.
Und so kam es, dass er lange zögerte und überlegte, ehe er die dritte Möglichkeit wählte: er ergriff die Flucht. Nicht sofort natürlich, denn das hätte ja für ihn bedeutet, die Zeche zu prellen, und das stand auch in seiner Lage nicht zur Debatte. Gärtner wählte seine eigene Art des Abgangs. Er wartete auf den Kellner, winkte ihn heran, um in einem ruhigen Tonfall, dem das Gekünstelte anzuhören war, die Rechnung zu verlangen. Nach dem Bezahlen stand er auf und verließ das Café, wobei er seine Angespanntheit fast schon professionell überspielte, die Glieder streckte und mit wippendem Schritt die Straße hinaufging, bis er sich außer Sichtweite wähnte. Dann lehnte er sich gegen eine Hauswand und atmete mehrfach tief ein und aus.
Hier war ein Spiel im Gange, das spürte er, eines, dessen Regeln er noch nicht kannte. Eine schreckliche Nervosität hatte sich seiner bemächtigt und er konnte noch nicht genau einmal sagen, warum. Was hatte es mit diesem Mann und seinen Augen auf sich? Kein Wort war zwischen ihm und dem Anderen gefallen, und trotzdem fühlte Gärtner sich von ihm bedroht.
In den Tagen nach dem Vorfall hielt ihn der Alltag davon ab, zu oft an die Begegnung im Café zu denken. Denn man sollte an dieser Stelle erwähnen, dass Gärtner einem Beruf nachging, der zwar alles andere als erfüllend war, ihm aber zumindest eine materielle Grundlage sicherte. Fünfunddreißig Stunden in der Woche war es Gärtners Aufgabe, Regale in einem Supermarkt zu befüllen, Waren dorthin zu räumen, wo zuvor Kunden ihren Gelüsten nachgegeben hatten. Handelte es sich hier auch um eine monotone Tätigkeit, so ermöglichte sie ihm eine Existenz in einer kleinen Wohnung in der nördlichen Leopoldstraße, wo Schwabing nicht mehr so strahlend leuchtete wie einige hundert Meter weiter vorne, wo es sich jedoch durchaus angenehm leben ließ. Gärtner liebte seinen Beruf nicht, hasste ihn jedoch auch nicht. Er betrachtete ihn im Großen und Ganzen als notwendiges Übel. Jeden Tag erschien er pünktlich im Supermarkt und erledigte seine Aufgaben mit größter Sorgfalt. Freundschaftliche Beziehungen zu Kollegen pflegte er nicht, ebenso wie er mit seinem Vorgesetzten nur das Nötigste sprach. Er war ein anspruchsloser und für seine stille Höflichkeit allgemein geschätzter Arbeitnehmer.
Während der körperlich durchaus anstrengenden Arbeit kam er kaum dazu, an den Mann mit dem Schnurrbart und den ergrauten Haaren zu denken. Nach dem Ende seiner Schichten schlenderte er stets, vom Siegestor kommend, die Leopoldstraße hinauf bis zur Münchner Freiheit. Auf dem Weg blieb er an manchen Schaufenstern stehen, kaufte sich hier und da etwas zu essen oder ein weiteres Buch. Kurzum: Morgens bis Mittags, von der
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"Der Andere" entstand im Jahr 2014 und ist meine bislang längste veröffentlichte Erzählung. Sie ist zusammen mit sechs weiteren Erzählungen im Sammelband "Zufällige Bekanntschaften" enthalten, kann aber auch einzeln als eBook erworben werden (Links dazu weiter unten).