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Mittagszeit bis zum Abend und auch nachts in seinem Bett lebte Gärtner zunächst sein gewohntes Leben weiter. Vier Tage lang. Bis der Andere wieder auftauchte.
Diesmal trafen sich die beiden Männer, beziehungsweise ihre Blicke, jedoch nicht in einem Café, sondern im Supermarkt. Es war nicht der Markt, in dem Gärtner die Regale befüllte und er war nach Feierabend als Kunde hier, schob seinen Einkaufswagen durch die Gänge, und von außen betrachtet sah er dabei ein wenig aus wie ein Schauspieler in einer Fernsehwerbung. Da kehrte auf einmal das körperliche Unbehagen zurück, dasselbe Unbehagen, wie wenige Tage zuvor, als der Andere ihn über die Cafétische hinweg gemustert hatte. Es durchfuhr ihn ganz plötzlich und unangekündigt, wie es Gefühle nun einmal an sich haben.
Gärtner blieb stehen, wandte sich vom Regal ab und sah sich im Raum um. Er entdeckte die eiskalten Augen sofort, einige Meter von ihm entfernt lauerten sie, direkt neben der Kühltheke. Der Mann trug erneut das sportliche Sakko mit den passenden Schuhen. Ein gepflegter Herr, der eine durchaus angenehme Erscheinung abgab, abgesehen von seinen Augen, die es direkt auf Gärtners Seele abgesehen zu haben schienen.
Gärtner zuckte zusammen, als er den unheimlichen Menschen wieder erkannte. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass die seltsame Begebenheit vier Tage zuvor wirklich stattgefunden hatte. Er blieb mehrere Sekunden lang wie stehen, unfähig sich zu rühren. Der Andere ließ ebenso keinerlei Regung erkennen, sondern begnügte sich damit, Gärtner zu fixieren, wie ein Jäger seine Beute ins Auge fasst, bevor er abdrückt. Sein Körper bewegte sich keinen Millimeter, der Mund blieb ebenfalls stumm. Er stand einfach nur da und ließ an seiner Hand eine Stofftasche mit undefinierbarem Inhalt baumeln.
Die Gefühlswelt eines Menschen ist nicht mit Worten zu erklären. Wo die Logik an ihre Grenzen stößt, übernimmt der pure Instinkt die Kontrolle. Und der hält es nicht immer für nötig, sich dem Verstand gegenüber zu rechtfertigen. Gärtners Instinkt sagte ihm, dass es besser sei, den Supermarkt zu verlassen.
Was, wenn der Fremde ihn töten wollte? Was, wenn man ihn hier observierte, um ihn später abzufangen, in eine dunkle Seitenstraße zu zerren und auszurauben? Es musste zwischen dem Anderen und ihm einen Zusammenhang geben, irgendwo lag das Ende eines Fadens herum, welches er aufnehmen und verknüpfen musste, um Klarheit zu haben. Doch nicht jetzt und nicht hier. Mit einer entschlossenen Bewegung wendete er seinen Einkaufswagen, um an der Kasse vorbei diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen.
Dabei übersah Gärtner jedoch einen anderen Mann zu seiner Linken, den er mit voller Wucht rammte und umwarf. Eine Tasche fiel zu Boden, zahllose Einkäufe purzelten heraus und kullerten durch den Verkaufsraum. Bei dem Mann handelte es sich um eine hagere Gestalt mit schneeweißem Haar und einem altmodischen Trenchcoat. Ein harmloser alter Mann, ein Rentner vermutlich, ein ganz normaler Kunde des Supermarktes, der nun hilflos auf dem Boden lag. Es war eine Szene von höchster Peinlichkeit für beide, besonders aber für Gärtner, der umgehend um Verzeihung bat und sein Möglichstes tat, um dem dürren, knochigen Mann wieder aufzuhelfen. Stets spürte er dabei den Blick des Anderen im Nacken, er stellte sich das hämische Lächeln vor, das den Mund unter dem Schnurrbart umspielte.
Dem Alten genügte Gärtners gestammelte Entschuldigung nicht, er ließ es sich nicht nehmen, dem Rüpel die Leviten zu lesen, und sofort rottete sich eine Meute zusammen, um ihn dabei zu unterstützen.
"Was fällt Ihnen eigentlich ein, einen alten Mann so rücksichtslos über den Haufen zu fahren?", schallte es durch den Laden, eine andere Stimme rief: "Der Herr hätte sich etwas brechen können!", und von irgendwo her drang ein verzerrtes "Wäre ich an Stelle dieses Mannes, ich würde Sie verklagen!" an sein Ohr. Gärtner nahm diese Kommentare nur wie durch einen Schleier wahr. Die Stimme versagte ihm den Dienst, in seinen Ohren aber begann es zu pfeifen. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als diesem Ort zu entfliehen, auszubrechen aus diesem Vulkankrater, hinter dessen Wänden irgendwo sein unheimlicher Verfolger lauerte.
Schließlich gelang es ihm, sich aus der Umkreisung zu befreien. Wüste Drohungen wurden ihm hinterhergerufen, doch Gärtner nahm sie kaum wahr.
Der Andere war nicht mehr zu sehen. Mitsamt seiner Tasche war er verschwunden, wohin auch immer, doch Gärtner ahnte, dass er ihm nicht zum letzten Mal begegnet war. Mit raschen Schritten und hochrotem Kopf verließ er den Supermarkt, ohne sich noch einmal nach dem alten Mann umzudrehen. Auf direktem Wege ging Gärtner nach Hause, mitten durch sein Viertel, das ihm nun auf einmal abweisend und düster vorkam. Der Obstverkäufer an der Münchner Freiheit rief ihm etwas zu mit viel zu lauter Stimme, der Straßenmusiker vor dem Postamt spielte die immer gleichen Balkanmelodien, und überhaupt waren sehr viele langsame Passanten auf dem Gehsteig unterwegs, die er überholen musste, nicht ohne dabei ein genervtes Schnauben hören zu lassen.
Erst auf der Schwelle seines Mietshauses wagte Gärtner einen Blick über die Schulter, doch der Andere war ihm nicht gefolgt. In seiner Wohnung angekommen, warf er seine Einkaufstüten auf den Küchentisch und sich selbst auf die Couch. Er schloss die Augen und zwang sich, ruhig zu atmen. Zunächst einmal galt es, die Nerven wieder in den Griff zu bekommen klare Gedanken zu fassen. Doch das Bild des unheimlichen Mannes, der ihn mit unbewegter Miene anstarrte, Gärtner bekam es nicht aus seinem Kopf.
Mehr noch als die Tatsache, dass dieser Fremde ihm nun schon an zwei unterschiedlichen Orten begegnet war und den Anschein erweckte, als könne er überall auftauchen, schockierte ihn die unaussprechliche Bedrohung, die von seinem Blick ausging. Noch war zwischen den beiden Männern kein Wort gefallen, noch hatte Gärtner nicht einmal eine vage Vermutung, was der Andere von ihm wollte, doch ihm graute schon jetzt vor dem nächsten Aufeinandertreffen. Dass es dazu kommen würde, stand außer Frage. Nur der Zeitpunkt war noch offen.
Von Anspannung getrieben, löschte er das Licht in seinem Wohnzimmer, schlich zum Fenster und warf, halb hinter dem Vorhang verborgen, einen Blick auf die in der Abenddämmerung liegende Straße. Seine Augen suchten nach dem fremden Mann, an jedem Laternenpfahl konnte er stehen. Als er niemanden sah, beugte er sich doch aus dem Fenster und spähte die Straße hinab in Richtung des Siegestors, dann hinauf nach Norden, wo die prachtvolle Allee sich in zweckmäßigen Gewerbebauten verlor. Fast spürte er so etwas wie Enttäuschung darüber, dass der Andere ihn nicht bis zu seiner Wohnung verfolgt hatte, um ihn durch das Fenster anzustarren.
Was willst du denn, rief es plötzlich in seinem Kopf. Reiß dich gefälligst zusammen, hieß es in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete, du bist doch ein besonnener Mensch, jetzt werde doch nicht verrückt. Es ist keineswegs bewiesen, dass dieser fremde Mann dich überhaupt kennt, ebenso wenig kannst du mit Sicherheit sagen, dass er dich beobachtet oder gar verfolgt, bei euren beiden Aufeinandertreffen kann sehr wohl der Zufall im Spiel gewesen sein.
"Aber warum starrt er mich dann so bösartig an?", fragte Gärtner, und es fiel ihm erst im Nachhinein auf, dass er die Frage laut gestellt hatte.
Manche Menschen sind nun einmal seltsam, antwortete die Stimme, das müsstest du aus persönlicher Erfahrung doch am besten wissen, auch wenn du es verdrängst. Manche Leute glotzen nun einmal blöd, und begreifen nicht, dass das für ihr Gegenüber unangenehm ist, vielleicht sind sie auch einfach langsam im Kopf, manchen kann man richtiggehend beim Denken zusehen, während sie starren, das ist doch bekannt. Mache dich nicht verrückt, Gärtner, du bist diesem anderen Mann erst zweimal begegnet. Und woher willst du wissen, dass du ihm nicht vielleicht entfernt bekannt vorkommst und er versucht, dein Gesicht einzuordnen? Also jetzt verliere die Nerven nicht, es gibt keinen Grund für Panikattacken.
Diese Überlegungen, das musste nun sogar Gärtner selbst zugeben, klangen plausibel. Er seufzte und warf noch einen letzten Blick aus dem Fenster. Moment, war das dort hinten auf der anderen Straßenseite nicht der Schatten eines Mannes, der zu ihm hochsah?
Gärtner fixierte den Umriss, der aus dem Halbdunkel zu ihm heraufstarrte, oder es auch nicht tat. Konnte die Gestalt nicht doch in eine andere Richtung blicken? War dort nicht auch eine Litfaßsäule mit Plakaten und Bekanntmachungen, war es nicht doch möglich, dass der Schatten diese las? Gärtner hielt den Atem an, ohne logischen Grund natürlich, aber in seiner Situation hätte niemand logisch gehandelt. Er wartete gebannt auf die nächste Bewegung des Schattens. Erst als sich die Gestalt anschickte, weiter die Straße entlang zu gehen, ließ er die Luft entweichen. Langsam verschwand die dunkle Figur, von der nicht einmal mit letzter Sicherheit zu klären war, ob sie Mann war oder Frau, aus Gärtners Blickfeld.
Er dunkelte seine Wohnung komplett ab, kleidete sich aus, zog sich dann in sein einsames Bett zurück und versuchte zu schlafen, was selbstverständlich völlig irrsinnig war. Nicht nur, dass es erst neun Uhr und damit viel zu früh zum Schlafen war, selbst für einen wie Gärtner, dem das Schwabinger Nachtleben mit all seinen Verlockungen seit jeher fremd war. Nein, es war nicht nur das: Gärtner konnte die Beklemmung geradezu körperlich spüren, es fühlte sich an, als wäre ein Ball in seiner Brust, der ihm die Luft zum Atmen abschnürte.
Er bekam die Vorstellung nicht aus dem Kopf, dass auf den Straßen der Stadt ein mysteriöser Mensch herumlief, um ihn zu verfolgen und zu observieren. Plötzlich war ihm unerträglich heiß, gequält wälzte er in seinem Bett umher. Wenn er wenigstens jemanden zum Reden gehabt hätte. Es hat schon einen Grund, warum der Glaube an eine göttliche Instanz vor allem bei denen so groß ist, denen es dreckig geht, dachte er. Gärtner war immer ein Einzelgänger gewesen. Auch hierfür hatte es einmal einen Grund gegeben, auf den er sich nicht mehr besinnen konnte. In seinem Kopf war alles verschwommen und verworren, er fischte in trübem Gewässer.
Draußen auf der Straße war ein Lachen zu hören, ein helles Frauenlachen von einem jungen Menschen. Selbst diesem angenehmen Geräusch wollte Gärtner in seiner Lage einen hämischen Unterton anhängen. Als die Uhr bereits weit nach Mitternacht zeigte, versuchte er, sich mit Lesen in den Schlaf zu wiegen, doch schnell wurde ihm bewusst, dass das Buch, in dem er las, dasselbe war, das er an jenem unglückseligen Tag im Straßencafé aufgeschlagen hatte. Wütend warf er es in die Ecke seines Schlafzimmers. Endlich fiel er in einen unruhigen Schlaf, aus dem er am späten Vormittag, von Kopfweh geplagt und müder als zuvor, erwachte. Die verstörenden Träume waren zurückgekehrt, doch außer einer Szene, in der er aus einem vergitterten Fenster auf einen Baum an einer großen Straßenkreuzung blickte, konnte er sich an nichts mehr erinnern.
(ENDE DER LESEPROBE)
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"Der Andere" entstand im Jahr 2014 und ist meine bislang längste veröffentlichte Erzählung. Sie ist zusammen mit sechs weiteren Erzählungen im Sammelband "Zufällige Bekanntschaften" enthalten, kann aber auch einzeln als eBook erworben werden (Links dazu weiter unten).