Seiten
noch wert sein, wenn angeborene Grundeigenschaften wie Neid und Missgunst ins Spiel kommen? Natürlich sind sie zum erfolgreichen Überleben Einzelner, in einer harten Umgebung, scheinbar sehr wichtig. Aber werden dadurch nicht vor allem human erscheinende, zukunftsweisende Erfahrungswerte wieder ad absurdum geführt? „Nein, sie müssen sich nur bewähren“ sagt mir ein kleiner Plagegeist ins Ohr, doch meine Intuition antwortet spontan: „Die Natur ist ein funktionierendes Unrechtssystem“.
Es ist still geworden. Direkt unheimlich! Alarmiert schaue ich wieder aus dem Fenster. Draußen bietet sich mir ein seltsames Bild. Scheinbar unbemerkt vom Publikum, gleitet der Wagen der Wissenschaft vorbei. Auf seiner Ladefläche sitzen lauter Gefesselte, deren kahlgeschorene Eierköpfe völlig verdrahtet sind. Hinter jedem Gefesselten sitzt ein dunkel gekleideter Spion, der beinahe so gut getarnt aussieht wie ich. Auch Spione sind gewissermaßen „Verdeckte Ermittler“. Jede dieser dunkeln Gestalten hält ein Bündel Geldscheine in der einen Hand und einen Stecken in der anderen, den er von hinten über den Kopf eines Gefesselten hält. An jeden dieser Stecken ist eine verklausuliert geschriebene Verheißung geheftet, die von einem besseren Leben für den Geköderten erzählt.
Die Gefesselten haben alle Hirnhälften voll zu tun, die Verklausulierungen zu dechiffrieren und das Ergebnis gedanklich an ihre Familien zu überweisen. Eine hochkomplizierte Situation also, deren Tragweite kaum jemand bewusst zu werden scheint. Für mich sieht das Ganze allerdings gar nicht so tüchtig aus. Bei näherem Hinsehen erkenne ich insgesamt nur einen Bauern, der auf seinem Nutztier, einem Esel, reitet und ihm listig eine, an einem Faden befestigte, Mohrrübe vor die Augen hält.
Zum Glück folgt auf diesen Wagen gleich der der Städtischen Bühnen. Auf ihm wird gerade Hamlet gegeben: „Ob’s edler im Gemüt, den Pfeilen des wütenden Geschicks gegenüber sich wappnend … sein oder nicht zu sein …“ Ich höre gar nicht erst hin!
Dahinter kommt endlich der Prunkwagen des örtlichen Puppentheaters. Dort ist alles klar! Die Figuren hängen an deutlich sichtbaren Strippen, die zwar nicht rot sind, den roten Faden im Geschehen jedoch sehr deutlich werden lassen. Auch dort gibt es ein Stück: eine Kreuzigungsszene läuft ab. Jesus wird von einem – steinzeitlich formuliert – Schamanen, durch Albrecht Dürer vertreten, die beiden „Schächer“ an den benachbarten Kreuzen sind durch Schilder gekennzeichnet auf denen „Galileo Galilei“ und „Johannes Keppler“ steht. Einstein liegt bereits erschlagen am Boden.
Mir wird schlecht! Ich frage mich langsam, ob heute nicht eher der 1. April ist. Manchmal ist das Leben einfach keine lösbare Aufgabe mehr, kein Intelligenztest, keine Herausforderung. Manchmal möchte man sich einfach nur hinsetzen und warten bis es vorbei ist. Als mir das durch den Kopf geht, wird mir gleichzeitig bewusst, daß man ja genauso gut auch gefoltert werden könnte, was wiederum als Ansporn gelten mag, nicht aber als gesunder Anreiz. Das = nicht menschenwürdig! Auch das muss ich leider zugeben, denn im Verborgenen existiert sie bei Menschen immer: die Menschenwürde!
Und sofort schmeißt sich mein Denkmotor wieder wie von selbst an. „Wie weit hilft uns die List dabei Menschenwürde zu erlangen?“, frage ich mich ehrlich. Und: „Sind wir, unter Anwendung der List zur Erreichung unserer Ziele überhaupt noch der Menschenwürde würdig?“ Mir fällt ein wie einige Altvordere und sogar rezente Typen dieses Problem gelöst haben. Mir schien es immer, als hätten sie mit all ihrem Gebaren verkündet: Ich schreite in Würde einher und gebärde mich majestätisch – deshalb wirke ich glaubhaft.
Um zu überprüfen, ob so etwas noch existiert, schaue ich noch einmal aus dem Fenster. Selbstverständlich erkenne ich umgehend, daß ich mich geirrt haben muss, denn da unten auf der Straße ist gerade der Wagen der Bildenden Künste, mit seinen fest auf ihm installierten Ikonen, unterwegs. Die unzähligen Rollen Toilettenpapier, zwischen den zur Anbetung bereiten Bildwerken, irritieren mich ein wenig, da ich jedoch nicht schon wieder in heillose Kritik verfallen möchte, drehe ich mich schnell von dem Schauspiel weg. Aus dem Augenwinkel habe ich aber noch eine, über allem schwebende, Phantasmagorie als Quasimodo identifiziert …auf irgendeine Weise …
Um nicht noch mehr erkennen zu müssen will ich in die Arme meines Lehnstuhls am Kamin flüchten. Etwas Wärme täte mir jetzt gut. Gleich darauf schrecke ich jedoch wieder zurück. Ich sehe mich schon dort sitzen! Habe ich meinen Platz gar nicht verlassen, sondern alles nur geträumt? Träume ich vielleicht immer noch? Um das herauszufinden, trete ich mir näher. Ich sehe genau hin und finde meine Pupillen nicht. Nur das Weiße im Auge ist sichtbar. Blicke ich in meinen eigenen Kopf? Was sehe ich dort? Stehe ich, in meinem Kopf, immer noch am Fenster und beäuge das Treiben auf der Straße? Bin ich womöglich sogar unten dabei, schwinge ich irgendein Kriegsbeil, gebrauche ich meine Genitalien ordnungsgemäß – oder sonst ein wichtiges Werkzeug?
Erschrocken versuche ich, meinen Körper zu ertasten. Nicht den im Lehnstuhl am Kamin, auch nicht den im Kopf dessen, im Lehnstuhl am Kamin, sondern den Körper, der den im Lehnstuhl am Kamin Sitzenden betrachtet. Natürlich finde ich ihn nicht, meinen Körper. Als ich an mir herunterblicke, sehe ich ihn nicht einmal! Wahrhaftig: Ich bin der Verdeckteste Ermittler aller Verdeckten Ermittler, die es gibt. Ich bin so verdeckt, daß ich Zweifel daran habe, daß es mich in Wirklichkeit überhaupt gibt. Kein Wunder also, daß ich nichts bewirken kann, wenn ich mich nicht einmal selbst in Würde wahrnehmen kann. In einem relativen Universum ist eben alles vom Standpunkt des Betrachters abhängig. Und ich lasse ja einen eigenen Standpunkt gar nicht zu.
Was ich bin, das bin ich also ebenso wie ich es nicht bin, abgesehen davon, daß ich fremdbestimmt bin und den Ereignissen, in denen ich eigentlich gar nicht vorkomme, nicht ausweichen kann. Am deutlichsten wird das sichtbar, wenn ich gefoltert werde (Schmerzen habe). Dafür scheint die Realität ja gut genug.
Dem letzten Wagen, der scheinbar durch das Scheinuniversum fährt, unten auf einer scheinbaren Straße, die scheingesäumt von Scheinzuschauern ist (vielleicht erkennt man bei näherem Hinsehen auch ihre Pupillen nicht, weil sie nur in den eigenen Kopf gucken), schenke ich keine Beachtung mehr. Trotzdem weiß ich, wie er aussieht. Es ist gar kein Wagen, es ist der imposante Zug der Prinzipien. Sie kommen zu Pferd – sie sind sozusagen der Clou jeder respektablen Armee: Die Prinzipienreiterei. Der Aufmarsch findet in prächtigen Uniformen statt und begleitet wird er von einer Kapelle aus Pauken und Trompeten. Dahinter folgt noch die Abordnung der Standesämter …
… ganz nebenbei ist inzwischen die Welt untergegangen. Ich habe es nicht bemerkt, denn sie war anscheinend ohnehin nur fiktiv. Was ich bemerkt habe, lässt sich vielleicht am besten durch den Kernsatz eines berühmten Philosophen ausdrücken, der mir aus meinem Dasein noch im Gedächtnis geblieben ist.
„Die wenigsten Leute ahnen, daß sich das Leben hauptsächlich in der Phantasie abspielt." Das jedenfalls behauptete vor 1000 Jahren, wie auch heute noch, der allseits bekannte und unsterbliche Professor Dankeswart Schnurz von der paläontologischen Fakultät Steinzeithausen in einem Symposion … In wessen Phantasie??
Diese Frage markiert das Ende aller meiner Bemühungen!
Kommentare
Ein bisschen Weltuntergang schadet doch kaum!
(So was schafft neuen Lebensraum …)
LG Axel
jaha, so könnte man durchaus sagen...
LG Alf
stimmt!
LG Alf
Seiten