„Dann zieh' schon mal bitte deine Jeansjacke aus“, sagte Georg trocken.
„Wozu?“
„Wirst du gleich sehen, du misstrauisches kleines Ding.“
Ich zog meine Jacke aus und reichte sie ihm.
„Die wickeln wir jetzt um deine Hand, damit du die Scheibe einschlagen kannst und dich nicht dabei verletzt. Und dann rennst du um unser Leben, und zwar auf direktem Wege zum nächsten Polizeipräsidium, damit mich die netten Jungs aus diesem elenden Kerker befreien. Schaffst du den Sprung, Cordula? - Wieviel Meter sind es eigentlich bis zum Erdboden?“
„Zwischen zwei und drei Metern; da unten scheint Gras zu wachsen, weiche Erde also, kein Problem“, sagte ich leichthin. „Ich muss irgendwie zusehen, dass ich auf Händen und Füßen gleichzeitig lande. Vor allem dürfen keine scharfen Splitter mehr in die Fensteröffnung ragen, sonst verletze ich mich.“
„Keine Angst, Schätzchen, dafür werde ich sorgen. Hör' mir jetzt bitte gut zu, Cordula: Ich nehme an, dass wir uns im Gartenhaus einer Villa in Schwabing befinden. Ich bin mir sogar fast sicher, dass ich diese Villa kenne. Du musst zusehen, dass du so schnell wie möglich zur Polizeiinspektion 13 in die Johann-Fichte-Straße 6 gelangst. - Ich halte es für das Beste, wenn du mit einem Taxi nach dorthin fährst."
„Aber ich hab' doch keinen einzigen ...“
„Pst!“, machte Georg, lüftete sein demoliertes Kleid und zog unter seinem Strumpfband einen Hundert-Euro-Schein hervor.
„Haben die nicht gefunden. - Hach, bin ich froh, dass die nicht an mir rumgefummelt haben. Wie sieht es bei dir aus, Cordula?“
„Alles bestens, mach dir keine Sorgen, Georg. - Wir schaffen das.“
Georg überreichte mir den Hundert-Euro-Schein, wickelte mir meine blaue Jeansjacke um die rechte Hand, riss eine Strapse von seinem Hüfthalter und fixierte damit den Wulst.
„So müsste es gehen, Schätzchen. Bist du bereit?“
Ich war bereit – kletterte ein zweites Mal über Georgs Räuberleiter auf seine Schultern, schlug mit drei, vier Schlägen die Scheibe ein und sprang nach unten ins Freie. Tatsächlich landete ich – wie vorausgesagt - auf allen Vieren. Ich achtete nicht auf den kleinen Schmerz, der durch meinen rechten Fuss schoss, sondern rannte blicklos ums Haus und kletterte über eine hohe Eisenpforte – hinter mir kläffte ein Hund, dem ich keinen Blick gönnte. Der Sprung von der Pforte aufs Trittoir kam mir noch um einiges gefährlicher vor als jener, den ich kurz zuvor durch das zerschlagene Fenster gewagt hatte, worin noch diverse Glasscherben in die Luft ragten.
Diesmal hatte ich mir wahrscheinlich das Fußgelenk verstaucht. Es schmerzte höllisch beim Laufen. Hinter mir kläffte immer noch der Hund; ich vernahm aufgeregte Stimmen von irgendwelchen Verfolgern und bangte um Georgs Leben.
Auf der rechten Straßenseite bog ein Auto aus einer Gasse. Ich sprang auf die Fahrbahnmitte und breitete die Arme aus. Der Wagen bremste, es handelte sich um einen älteren VW Passat. Am Steuer saß eine Frau in meinem Alter; sie sah zugänglich aus, soweit ich das in meiner Panik überhaupt beurteilen konnte. Ich rannte zur Beifahrertür und klopfte ans Fenster. Sie öffnete.
„Bitte, bitte“, flehte ich. „Fahren Sie mich zur Polizeiinspektion 13 in die Johann-Fichte-Straße 6. Mein Freund befindet sich in höchster Lebensgefahr - und ich mich nicht minder, falls ich nicht schnellstens von hier wegkomme.“
Sie öffnte die Tür und ich stieg ein.
„Danke“, sagte ich. - Von ihr kam kein Wort. Sie blieb stumm wie ein Fisch, musterte mich indes verstohlen aus den Augenwinkeln.
„Entschuldigen Sie bitte meinen Aufzug“, sagte ich, „aber ich war die halbe Nacht in einem Zimmer eingesperrt.“
Sie grinste schief.
Was sollte ich noch zu meiner Entschuldigung vorbringen; mir fiel nichts mehr ein.
„Bitte, fahren Sie etwas schneller. Georg befindet sich in höchster Gefahr.“
Sie legte tatsächlich einen Zahn zu.
„Leopoldstraße“, las ich auf einem Straßenschild. Ich befand mich also in der Leopoldstraße, von der ich schon öfters gehört hatte.
Die schweigsame Frau bog in eine kleine Nebenstraße, fuhr ein paar Meter weit, bremste, und zeigte wortlos auf ein breites, fünfstöckiges weißes Gebäude, vor dem drei Polizeiwagen parkten. - Ich hatte es geschafft!
Ich klopfte der Dame auf die Schulter, bedankte mich, stieg aus und raste zum Eingang des Gebäudes.
Im Polizeirevier machte ich sofort auf mich aufmerksam: „Bitte, Georg muss sterben, wenn Sie nicht sofort mit mir zu dieser weißen Villa fahren. Wir sind einem Loverboy-Ring auf der Spur, die uns gekidnappt haben!“
Ich schrie diese beiden Sätze aus voller Lunge in den Raum hinein, und einer der Beamten erhob sich von seinem Schreibtischstuhl und kam auf mich zu.
„Welcher Georg?“, fragte er.
„Georg eben, der mir helfen wollte, meine Tochter Sally zu finden, die in die Hände eines Loverboys geraten ist. Die Fahndung nach diesem jungen Typen läuft bereits. Bitte, kommen Sie mit zu diesem Haus; ich erzähle Ihnen unterwegs die ganze Geschichte.“
„Ich hole Verstärkung, bin gleich wieder zurück“, sagte der Beamte und verschwand hinter einer Tür, die auf der rechten Seite neben dem Tresen eingelassen war.
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis er und sein Kollege endlich startklar waren. Wir stiegen in einen der Dienstwagen, die vor dem Haus parkten.
„Dann erzählen Sie mal“, sagte sein Kollege, der eindeutig der ältere von beiden war. „Und vergessen Sie nicht, uns zum Tatort zu dirigieren, wenn Sie uns schon nicht sagen können, wie die Straße heißt, in der dieses mysteriöse Haus stehen soll.“
„Steht“, sagte ich mit Nachdruck. „Dieses mysteriöse Haus steht immer noch dort, sofern es nicht zwischenzeitlich in die Luft gesprengt wurde. Und mein Freund befindet sich in höchster Lebensgefahr. Sie können mir getrost glauben. Es gibt weiß Gott andere Dinge, die ich erledigen könnte, wenn ich nicht Georgs Leben und das meiner Tochter retten müsste.“
Ich schilderte den Beamten in knappen Worten die Situation und machte noch einmal deutlich, dass Georg sich in großer Gefahr befände, falls die Bewohner des Hauses mitbekämen, dass ich mich befreit hatte.
„Eine gewisse' Yvonne', Inhaberin einer Erotic-Bar, hat uns mittels K.-o.-Tropfen außer Gefecht gesetzt, und als wir aufwachten, Georg und ich, befanden wir uns in diesem leeren Zimmer mit dem Hochfenster, das ich zerschlagen musste, um Hilfe holen zu können“, beendete ich meinen Bericht. „Und hier müssen Sie bitte abbiegen.“
„Clemensstraße?“, fragte der ältere Beamte.
„Von dieser Straße aus bin jedenfalls ich auf die Leopoldstraße gelangt.“
„Da“, rief ich, „das ist das Haus mit dem extrem großen Grundstück, worauf das Gartenhäuschen steht. - Halten Sie bitte hier.“
Wir stiegen aus und gingen auf das Haus zu, dessen Vorderfront noch um ein Vielfaches imposanter war als seine Rückseite.
Hartwig, mit diesem Namen hatte sich der Polizist, mit dem ich unmittelbar nach Eintreffen auf der Wache gesprochen hatte, derweil vorgestellt, presste seinen Daumen auf die Klingel, die einen melodischen Ton von sich gab. Ein alter Diener in Livree kam angeschlurft und öffnete die Haustür.
„Polizei“, sagte Hartwig und zeigte seinen Dienstausweis. „Wir möchten den Herrn des Hauses sprechen.“
„Ich werde sehn, was ich für Sie tun kann“, nuschelte 'James' und schlurfte davon.
Hartwig hatte derweil einen Fuß auf die Schwelle der Tür gesetzt und hieß uns eintreten. Die Eingangshalle ähnelte einem Hotelfoyer. Auf der linken Seite konnte man durch leicht getrübte, grünliche Glaswände einen Swimmingpool mit den Ausmaßen einer geräumigen Drei-Zimmer-Wohnung erspähen – ich befand mich in einem Zustand, für dessen Beseitigung ein Bad dringend erforderlich gewesen wäre. Andererseits hoffte ich inständig, Georg möge sich nicht in diesem Pool befinden, womöglich wie ein toter Fisch auf dem Rücken treibend.
Wir warteten in dieser riesigen Halle; darin Blumen in Kübeln wuchsen, die man durchaus als Bäume bezeichnen konnte. Ich hatte Georg bereits aufgegeben. Weshalb man noch groß den Hausherrn herbeizitierte, während sich mein Freund in allergrößter Gefahr befand, was ich den beiden Beamten mehr als deutlich zu verstehen gegeben hatte, überstieg bei weitem mein Verständnis. Präventive Polizeiarbeit wäre meines Erachtens effizienter und angebrachter gewesen als diese absurde Höflichkeit, derweil Georg womöglich verblutete.
Endlich erschien Justus von Segeberg, der Hausherr: ein dicklicher kleiner Mann in den Fünfzigern mit Halbglatze. Hartwig stellte sich vor und bat ihn, uns seinen Garten zu zeigen.
„Dort ist nichts, das Sie interessieren könnte“, sagte von Segeberg.
„Das zu beurteilen, überlassen Sie bitte uns“, entgegnete Hartwig, durchquerte mit großen Schritten die Halle und öffnete eine der supermodernen gläsernen Zimmertüren, von denen eine vermutlich direkt hinaus in den Garten führte.“
Fortsetzung am 02. Januar 2017