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weil „Depp“ nicht das geringste Lebenszeichen von sich gab. Rupert hat die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr nicht nur seelenruhig verstreichen lassen, sondern auch in vollen Zügen genossen, bevor er sein „veganes Täubchen“ auf dem Polizeirevier in Hamm als vermisst meldete.
Er hat Debbie schon öfters ausgesetzt, das letzte Mal im Urlaub, irgendwo in der mexikanischen Pampa zwischen Chihuahua und Jimenez. Bedauerlicherweise fand sie jedes Mal nach Hause oder ins Hotel zurück.
Es war verdammt lange her, dass er Gelegenheit hatte, der Reeperbahn einen Besuch abzustatten. Debbie überwachte ihn schärfer als dazumal Cherubinen den Garten Eden. Er hat seine Kindheit und Jugend in dem lebhaften Vergügungsviertel verbracht und nennt eine Menge Leute, die nach wie vor auf dem Kiez beheimatet sind, seine „besten Freunde“.
Gegen Mitternacht des ersten Tages, den er, wie neu geboren, in Freiheit verlebte, er fühlte sich bereits unsicher auf den Beinen, war er in einem Strip-Lokal gelandet, worin entzückende Häschen „oben ohne“ servierten und die Gäste nach Strich und Faden verwöhnten. Rupert war in freudige Erregung geraten und einem sexy Go-go-Girl ins Separée gefolgt. Dass sein „dreizehntes Gehalt“ dabei draufging, fiel ihm erst ein paar Tage später auf, aber ihm tat nicht ein einziger Cent leid.
Der Cop, der die Vermisstenanzeige aufnahm, wollte nicht ausschließen, dass „Depp“ einem Verbrechen zum Opfer gefallen war; allerdings sei es nicht verwunderlich, dass seine Frau nicht mehr heimkommen wolle, so, wie er, Rupert, sie behandelt habe. Eheliche Zwistigkeiten seien durch ruhige Gespräche zu klären, notfalls im Beisein eines Schlichters’. Rupert bricht während seiner Gedanken an die Zurechtweisung des Beamten in ein meckerndes Gelächter aus. Der gute Mann kannte „Depp“ nicht. Sein „Täubchen“ konnte sich im Handumdrehen in einen Feuer speienden Drachen verwandeln. Ruhige Gespräche waren nicht ihr Ding.
„Soll sie bleiben, wo der Pfeffer wächst“, denkt Rupert. Er hätte Debbie liebend gern für tot erklären lassen, aber das war frühestens in neun Jahren möglich.
Letzten Sommer hat er Ariane kennen gelernt, mittenmang dem Trubel vor dem Hauptbahnhof, wo gerade ’ne Demo am Laufen war. Rupert erinnert sich, dass der Personalnotstand in Pflegeheimen angeprangert wurde.
Er stellt sich vor, wie schön es wäre, von Ariane umsorgt zu werden, falls er im Alter hinfällig würde.
„Hoffentlich taucht ‘Depp’ nicht irgendwann wieder auf“, denkt Rupert, „es sei denn, als Leiche.“
Er hatte sich damals in einem Laden an der „Mö“ zwei Hemden gekauft und wollte vor der Heimfahrt noch schnell einen Kaffee im Bahnhof trinken. Ariane war versehentlich ihre Umhängetasche von der Schulter geglitten, und er half ihr, den Inhalt einzusammeln, der verstreut auf dem Pflaster lag. Dabei sind sie sich näher gekommen.
Ariane ist eine sportliche Frau und ein echter Kumpel ‑ ein erfrischender Kontrast zu Debbie, findet Rupert.
Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. Gleich macht sie sich auf den Weg. Für die Strecke vom Hauptbahnhof - sie kommt aus dem schönen Stadtteil Winterhude - zu seinem Domizil in Rothenburgsort braucht sie weniger als eine Dreiviertelstunde – auf Schusters Rappen, was Debbie nie im Leben eingefallen wäre.
Rupert freut sich auf die Festtage, die er mit Ariane verbringen will, wie sich ein halbwegs artiges Kind auf den Weihnachtsmann freut.
„City-Tauben GbR – Verein für an Tanken und anderen Orten ausgesetzte und vergessene Ehefrauen?“ Milena Mandres Stimme klingt höflich und angenehm, obwohl sie seit fünf Stunden im Dienst ist. Kurz vor, während und drei bis vier Tage nach Weihnachten gehen die meisten Anrufe ein ‑ von verzweifelten Frauen, deren Ehemänner sich von Tankstellen, Parkplätzen oder anderen, meist abgelegenen Orten ohne die Vermählten auf den Weg ins mehr oder weniger traute Heim oder geradewegs zur heimlichen Geliebten begeben haben; es werden von Jahr zu Jahr mehr, hat Milena anhand ihrer Statistik festgestellt. Während die Gemahlin auf dem „stillen Örtchen“ ein Quickie-Styling durchführt oder in irgendeiner Pampa dem Druck ihrer Blase nachgibt, macht sich der Gatte mit dem oft genug gemeinsam abbezahlten Statussymbol still und heimlich aus dem Staub Richtung Heimat, meist aus purer Schlechtigkeit, um später, scheinbar reumütig, zu erklären, dies sei ein tragischer Irrtum gewesen.
Milena beruhigt die aufgeregte Frau, deren Geschluchze aus dem Hörer in das kleine Büro dringt, was Tessa, Patricia, Rabea und Debbie veranlasst, die Ohren zu spitzen, um in Erfahrung zu bringen, welch grausames Schicksal der Anruferin von einem zweifellos seelenlosen Gatten aufgebürdet wurde.
„Wer fährt mal eben zur Tanke hinter „Abzweig Veddel“ und holt Trude ab? Sie trägt einen blauen Parka mit Fellkapuze und braune Stiefel. Ihr Mann hat sie dort vergessen, vermutlich absichtlich. Der feige Kerl hat seit einem Jahr ’ne Geliebte und will Trude unter allen Umständen loswerden. Sie ist froh, dass sie überhaupt noch am Leben ist. Apropos ‘Abzweig Veddel’, da hast du doch letztes Jahr an Weihnachten auch auf uns gewartet, Debbie, weil du partout nicht mehr nach Hause wolltest?“ Milena Mandres wirft ihrer Angestellten einen fragenden Blick zu.
„Bin schon unterwegs, Chefin“, grient Debbie und wickelt sich in ihre giftgrüne Steppjacke.
„Und denk bitte ‘dran, dass wir ‘clock five’ die Abschlusskonferenz für die Aktion ‘Überraschung am Heiligabend’ haben“, ruft Milena ihr nach.
„Wie könnte ich ...“, murmelt Debbie, schnappt sich den Autoschlüssel vom Haken neben der Tür und springt die Treppen hinunter. Milenas Büro liegt im dritten Stock eines Geschäftshauses in der Innenstadt.
Debbie stapft hinaus in den weißen Pulverschnee, der pünktlich zum Fest gefallen ist. „Schade, dass der schöne Weihnachtsmarkt rundum die Petrikirche schon abgebaut ist“, denkt sie. Letztes Jahr, damals war sie noch mit Rupert, einem exzessiven Fleischfresser, zusammen, hat sie an einem der verlockend schönen Stände ein apartes Adventsgesteck aus dem Erzgebirge erworben.
„Morgen ist Heiligabend“, freut sich Debbie und wundert sich, wie schnell das letzte Jahr, das ihr Leben von Grund auf verändert hat, vergangen ist. Bei dem Gedanken an das bevorstehende Fest erfüllt sie ein unbeschreiblicher Jubel; fast glaubt sie, jeden Moment vor Glück platzen zu müssen.
Trude ist schnell aufgesammelt und eingeladen, und Debbie fährt ohne Umwege in die Innenstadt, parkt den Firmenwagen in einer Seitenstraße nahe der Binnenalster und lotst die in Tränen aufgelöste Frau durch die Alsterarkaden in die Rathauspassage. Dort gibt es inmitten eines Bücherantiquariats ein kleines, sehr günstiges Speiserestaurant, das neben herkömmlichen Gerichten auch